20~ Fighting against illusions

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His point of view

Als Frau Ribbeck sie ansprach und Lilac sagte, dass sie sich auf Tinder anmelden würde, fanden viele die Idee möglicherweise doof, manche vielleicht auch cool. Ich jedoch fand sie großartig. Lilac war für mich schon immer das mutigste Mädchen gewesen, welches ich je gesehen hatte. Monatelang sah ich in ihr so viel. Mut, Kreativität, Offenheit, Intelligenz, Freundlichkeit.
Lilac strahlte so viel Positives nach außen aus. Es war, als würde sie von innen heraus leuchten wie eine Laterne. Am ersten Tag des ersten Semesters an der Uni sah ich sie an, während sie unsicher den Saal betrat. Natürlich viel mir auf, dass sie etwas mehr wog als die meisten hier.
Aber ich sah darüber einfach hinweg, denn ihre Augen funkelten begeistert, als sie ihr Buch hervorholte.
Stolz und Vorurteil von Jane Austen.
Sie hatte wunderschöne braune Locken, die sie sich aus dem Gesicht schob, um besser lesen zu können.
Kurz erwägte ich, mich neben sie zu setzen, doch da hatte sich bereits eine andere neue Studentin neben sie gesetzt. Auch eine Woche später war der Platz besetzt. Jede Woche darauf.
Sie und die andere Studentin wurden Freundinnen, während ich mich selbst verfluchte, weil ich mich am ersten Tag nicht getraut hatte.

Ich lebte wie jeder andere Student mein Leben, freundete mich mit Gale an und feierte mit den anderen Abends in Discos. Ich lernte, schrieb ein paar Texte, die ich sofort wieder verwarf, las Bücher und trank unglaublich viel Kaffee, um mich wachzuhalten. Abends jobbte ich in dem hippen Café einer Kunstgalerie.
Doch immer wenn ich Lilac über den Weg lief, bewunderte ich sie.
Sie war wunderschön, jede einzelne Haarsträhne, jedes Lächeln, jede Stimmung. Und dann die Kopfhörer von JBL, mit denen sie einfach nur total cool aussah. Sie war jemand, der den Flur irgendwie besser machte, wenn sie ihn betrat. Sie war nicht wie viele andere Studenten, wirkte nicht wie ein einzelner Stein im Kopfsteinpflaster oder ein einzelner Apfel auf einem Apfelbaum.

Sie war immer sie selbst, trug so viele Facetten und lebte einfach so, wie sie wollte. Sie war für mich genau das Mädchen, was ich bewunderte.
Für das ich schwärmte.
Und als sie aussprach, wie oberflächlich Männer seien, wollte ich jedem Mann, der ihr je wehgetan hatte, den Hals umdrehen. Ich würde ihr nie wehtun. Aber wusste sie von meiner Existenz? Nein.

Stattdessen versuchte ich, sie nicht zu bewundernd anzustarren, als Gale mir einen Seitenblick zuwarf.
Würde er mich nicht für total bescheuert halten, weil ich heimlich für ein Mädchen schwärmte, anstatt mit ihr zu reden?

Sie trug an dem Tag einen Dutt, der ihr Gesicht zur Gesicht wunderbar hervorhob, ein schlichtes graues T-Shirt mit dem Aufdruck eines Buches und eine Jeans. Dazu diesen schönen weinroten Cardigan.

Als wir die Vorlesung verließen, war ich mit meinen Gedanken wieder ganz woanders als bei dem redenden Gale neben mir. Irgendeine Party heute Abend? Okay. Pizza essen gehen? Okay. Geht's dir gut? Okay.

Jap, das war der Moment, in dem Gale checkte, dass ich zu nichts zu gebrauchen war, und kopfschüttelnd um die Ecke bog. Ich dachte wieder an Lilacs grenzenlosen Mut, den sie heute erneut gezeigt hatte.

Und dann kam die Idee. Ich fühlte mein Herz heftiger schlagen, weil ich nicht wusste, ob ich mich tatsächlich trauen würde, doch ich wollte wenigstens einmal etwas riskieren.

Ich lud mir abends selbst Tinder runter, dachte an das Buch, das Lilac am ersten Tag dabei hatte (Stolz und Vorurteil) und meldete mich zufrieden als Mr. Darcy an.

War es nicht einen Versuch wert?

Lilac, für die ich monatelang schwärmte? Seufzend und mit klopfendem Herzen suchte ich nach ihr und fand sie tatsächlich. Ich musste bei ihrem Profil fast laut auflachen. Hätte mich das Zitat auf ihrem Profil mich nicht sofort an sie erinnert, hätte ich sie nie erkannt.

Das Bild einer fremden Frau ließ mich aufprusten. Sie wirkte nicht wie die Lilac, in die ich mich verliebt hatte. Ich wünschte ein Bild der wahren Lilac würde mich anlächeln. Ich würde ihr beweisen, dass sie mit ihrer Theorie falsch lag.

Denn ich hatte mich ja längst in sie verliebt. Ohne das Zitat hätte ich sie nicht erkannt. Aber die Wörter, die mir entgegenleuchteten, waren zu hundert Prozent Lilac selbst:

Perfektion liegt im Auge des Betrachters.

Das schönste einen Tag später, war, dass sie antwortete. Jedes ihrer Worte flatterte wie ein Schmetterling in mein Herz. Wir schrieben die ganze Nacht lang und darüber hinaus.
Irgendwann fragte ich sie, ob sie auch morgen antworten würde.
Das Ja ließ mein Herz flattern.
Ich, der schüchternste Typ der Welt, bekam ein einfaches Ja als Antwort, in dem so viel mehr lag.
Denn es war ein Ja von Lilac.

Ich kaute ewig auf meiner Unterlippe herum, als ich nachdachte. Dann, entgegen der Wahrheit, schrieb ich eine riesige Lüge.

„Dein Profilbild ist wunderschön.“

Nicht, weil ich sie verletzen wollte. Ich wollte, dass Lilac irgendwann von selbst feststellen würde, dass es sie als Person war, in die ich mich verliebte.
Ich meine, würde sie nicht misstrauisch werden?

Es kam keine Antwort und ich hatte ein superschlechtes Gewissen...

Ich überlegte gerade, noch etwas zu schreiben, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete Gale die Tür, der mich entgeistert ansah. Ich hatte mich für die Party nicht einmal umgezogen, denn ich hatte sie total vergessen.

Zerknirscht starrte ich auf mein Shirt mit dem Tomatenfleck und zog ein neues schwarzes T-Shirt an, ehe ich mich aus der Tür schob und meinem Freund folgte, der mich skeptisch musterte und dann nachhakte:

„Was ist denn mit dir los, Henry?“

Lilac #freeyourbody ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt