Den nächsten Morgen verbringe ich wie in Trance, so sehr nagt der fehlende Schlaf der letzten Nacht an mir. Direkt nach Kreativem Schreiben habe ich eine Freistunde.
Erleichtert, endlich ein wenig Raum zum Denken und frische Luft zu haben, schiebe ich mich aus dem warmen Saal und krame meine Kopfhörer aus der Tasche, die sich prompt in einander verhaken.
Hektisch zerre ich daran herum und mache den Fehler, währenddessen weiterzulaufen.
Ich sehe die Glastür vor mir viel zu spät. Ich schließe die Augen, erwarte einen Knall, ein dumpfes Gefühl an der Stirn oder ähnliches, doch spüre nichts. Verwundert öffne ich die Augen und sehe, dass die Tür direkt vor meiner Nase aufgehalten wird und mich ein Typ frech angrinst:„Glück gehabt würde ich sagen!“
„Danke“, stammle ich und spüre, wie die Farbe sich in meinem Gesicht sammelt. Wie peinlich... Ich schiebe mich an ihm vorbei in die klare Herbstluft und bleibe dann betreten vor dem Ausgang stehen.
Auch er macht keine Anstalten zu gehen sondern lacht nur in sich hinein. Offenbar amüsiert er sich prächtig über mich...
Allerdings kann ich ihn so besser unauffällig mustern und stelle fest, dass er unglaublich viele braune Locken hat, die ihm in die Stirn fallen.
Als er sie sich aus dem Gesicht schiebt, blitzen mich zwei warme braune Augen an. Sein Lachen ist freundlich und keineswegs herablassend oder irritiert, was ich eher erwartet hätte.
Stattdessen sieht er mich an, schaut auch nach dem Blick auf meine Speckröllchen genauso freundlich wie zuvor. Was mich völlig aus der Fassung bringt.
„Ich bin Henry“, er streckt mir seine schmale Hand entgegen, in die ich zögernd meine lege. „Lilac.“
„Naja, Lilac. Nachdem ich dich so freundlich vor einer Beule gerettet habe, möchtest du mit mir einen Kaffee trinken?“
Meine Verblüffung muss man mir auf zehn Meter ansehen, denn er schmunzelt und mustert meine Kopfhörer, die ich immer noch verknubbelt in der Hand halte.
„Oder wolltest du Musik hören?“
„Nein“, beeile ich mich zu sagen und erwidere sein Lächeln, „Ich trinke sehr gerne einen Kaffee mit dir!“
Ich sehe unauffällig zu Henry, als die Bedienung die zwei Tassen Kaffee vor uns abstellt. Wir sitzen in einem Café, welches mit lauter bequemen Chaiselongues und Hängesesseln ausgestattet ist und herbstliche Kaffeesorten wie „Kürbis-Zimt“, „Ingwer-Anis“ oder „Spekulatius“ anbietet, die Henry und ich durchprobieren.
Er fragt mich sogar, ob ich gerne ein Stück Himbeerkuchen haben möchte, als er einen bestellt. Ganz selbstverständlich, als wäre nichts dabei. Befinde ich mich in einem Paralleluniversum? Ich bin kurz davor, mich zu zwicken, um sicherzugehen, dass ich wirklich nichts hiervon träume.
Erst bin ich gewillt, nicht nur ja zu sagen, sondern den gesamten Kuchen wie ein Staubsauger in mich aufzusaugen, sage jedoch schnell: „Nein danke.“Henry mustert mich etwas irritiert und fragend, als verstünde er die Welt nicht mehr... Schnell lächele ich, werfe einen neidischen Blick auf sein Stück Kuchen und trinke einen Schluck Kaffee.
„Also. Du studierst Literatur ?“, fragt er, während ich versuche, ihn nicht anzustarren. „Ja. Zweites Semester. Du auch?“
Er nickt begeistert. „ Der Wahnsinn. Sind wir nicht in der gleichen Vorlesung? Die mit dem Aufstellen der Studie als Hausarbeit?“
Ich nicke. Zum Glück geht er nicht auf mein Projekt mit Tinder ein... Vielleicht war er an dem Tag ja nicht da. Es wäre wirklich superpeinlich, wenn er genau wüsste, wer ich bin.
Die Anderen aus der Vorlesung, insbesondere Maxim, stehen mir eher etwas unschlüssig gegenüber, manche sind sich einer klaren Meinung bewusst.
Oft habe ich heute Lob gehört, allerdings auch viel Spott. Was mich an Mädchen wie Lucia erinnert, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben. Die werde ich wohl nie los.
„Liest du gerne?“
„Was für eine Frage, da könnte ich stundenlang erzählen. Ich liebe Bücher! Du?“
Henry lächelt mich an und trinkt einen Schluck Kaffee mit Spekulatius.
Er bemerkt meinen Blick auf seinen Kuchen und schiebt das halbe Stück einfach herüber. Dankbar stecke ich mir die Gabel einfach in den Mund.Ich sehe die Blicke der anderen Studentinnen, die tuschelnd zu uns herüberblicken. Bestimmt denken sie etwas wie: Was isst sie ihm denn den Kuchen weg? Sie hat es sicher nicht nötig. Schaut sie doch an.
Vielleicht fragen sie sich aber auch, was einer wie er, der wirklich zum Vernaschen aussieht, von mir will.Ich spüre, wie mir der Appetit vergeht und schiebe den Teller von mir.
„Ich... Bin allergisch auf... Brombeeren. Da sind welche drin. "
Er inspiziert verwirrt den Kuchen und schüttelt den Kopf. „Sorry, ich dachte da seien nur Himbeeren drin. Willst du was anderes?"
Schnell schüttele ich den Kopf und versuche, an etwas anderes zu denken, doch ich kann nicht. Die große Frage, was er von einem Walross wie mir will, hängt wie eine fette Regenwolke über meinem Kopf.
„Henry? Warum hast du mich eingeladen? Aus Mitleid?“
Und schon sind die Worte raus. Er verschluckt sich beinahe an dem Stück Kuchen in seinem Mund, schluckt schnell runter und sieht mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Ich fand dich nun einmal nett. Darf ich dich nicht nach einer Verabredung fragen?“
„Du willst wirklich mit mir Kaffee trinken?“
„Ja klar“, lächelt er mich aufmunternd und etwas irritiert an.
„Du bist der interessanteste Typ, den ich je getroffen habe“, verplappere ich mich in meiner Erleichterung, doch er grinst mich nur an.
„Und du hast die schönsten haselnussfarbenen Haare, die ich je gesehen habe.“
„Wirklich?“
„Hat dir das noch nie jemand gesagt?“
„Nein“, sage ich und strahle wahrscheinlich über beide Seiten.
Habe ich wirklich schöne haselnussbraune Haare? Wie können ihm bei meinem Körpergewicht, dass wirklich nicht gerade in den Hintergrund tritt, so etwas wie meine Haare auffallen?„Dann sind die Leute eher neidisch oder blind.“
Ich glaube ich habe deswegen den ganzen Tag nicht mehr über das Projekt, die blöde Tinder App, Maxim und mein Unwohlsein nachgedacht, weil ich bis zum Abend an nichts mehr denken konnte außer an Henry und eine Einladung für morgen Mittag im selben Café.
Sie kam so selbstverständlich, so leicht wie ein Schmetterling und hinterlässt so viel Glück in mir, dass ich meine Kilos nicht durch die Uni schiebe, sondern einfach schwebe.
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Lilac #freeyourbody ✔️
Romance« Du kannst 130 Kilo wiegen, Haare auf den Zähnen haben oder reden wie ein Lexikon auf zwei Beinen und ich würde trotzdem hier mit dir in der Herbstsonne sitzen und nichts lieber wollen als das. » ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ ✨ Die 19-Jährige Lilac ist fr...