26~ Lauschen kann jeder!

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Jule schafft es tatsächlich, jeden einzelnen Linus in der Uni ausfindig zu machen und ihn zu fragen, ob er eine Lilac kennt. Niemand davon kennt mich, was bedeutet, dass Mr. Darcy gelogen haben muss.
Nur wieso? Erst der Zimtkaffee und dann der Satz, dass er mich wunderschön findet. Und dann sagt er mir nicht seinen richtigen Namen?
Ich fühle mich versetzt und so, als wäre ich wieder in der Schule und Lucia würde mich ärgern.

Ich verstehe einfach nicht, wieso er mich anlügt, nachdem ich endlich meinen Schutzpanzer abgelegt habe.
Ich bin so in Rage, so enttäuscht, als ich am Abend in mein Bett falle. Wie kann ein Tag erst so schön anfangen und dann so schrecklich ausgehen? Eigentlich hat Mr. Darcy genau das gemacht, wovon ich heute Morgen geträumt habe.
Er hat erfahren, wer ich wirklich bin und mich dann fallen gelassen.
Auf einmal geht es ganz leicht, die Studie fertig zu schreiben.
Zu schreiben, dass Männer wirklich oberflächlich sind. Dass ich von Anfang an verloren habe.

Es ist nichts neues, doch es fühlt sich so an. Ich hätte es wissen müssen und doch wollte ich endlich glauben, dass es jemanden auf der Welt geben könnte, der mich so will wie ich bin.
Ich habe endlich angefangen, mich so zu akzeptieren wie ich bin.
Egal, was heute passiert ist, ich will auf keinen Fall aufgeben.
Ich ertappe mich dabei, wie ich mir wieder im Internet die Fotos der Stockholmer Uni ansehe.
Ich spüre, wie die Sehnsucht danach, etwas neues auszuprobieren, immer größer wird. Ich will dieses Stipendium bekommen.

Ich will etwas neues sehen, Schweden entdecken, den ganzen Tag durch die Grünen Wälder streifen, das Meer sehen, die Museen und Bibliotheken in Stockholm.
Deshalb schreibe ich endlich das, was mir so auf die Seele drückt. Ich schreibe darüber, wie sehr ich es hasse, für mein Gewicht verurteilt zu werden. Ich schreibe meine ganze angestaute Wut hinaus.
Dazu drehe ich die Musik in der Wohnung so laut, bis jedes Geräusch meiner Gedanken im Keim erstickt wird. Nicht einmal mehr das Klicken meiner Tastatur höre ich.
Natürlich denke ich darüber nach, ob er mir geschrieben hat. Meine Gedanken huschen wie von selbst immer wieder zu Mr. Darcy. Ich vermisse seine Nachrichten auf irgendeine Weise. Ich vermisse es, mit ihm zu reden, als würden wir uns ewig kennen. Egal, wie enttäuscht ich bin- ich vermisse ihn.

Frau Ribbeck schiebt sich die Brille mit dem goldenen Gestell auf die Stirn, als ich ihr die Mappe reiche.
Es hat mich keine große Überwindung gekostet, weil ich glaube, dass jedes der Worte, welches ich geschrieben habe, die Wahrheit ist. „Du bist schon fertig?“, fragt sie überrascht und mustert mich.
Ich nicke schnell. „Der Abgabetermin ist in zwei Wochen. Also ja.“

Sie lächelt mich herzlich an und mir wird wieder klar, wie jung sie eigentlich ist.

„Dann bin ich gespannt. Ich würde mich sehr freuen, dir den Platz in Stockholm anzubieten.“

Meine Finger beginnen, den Saum des Pulliärmels nervös nachzufahren. Die Chance ist so riesig, so wunderbar, dass ich sie unbedingt ergreifen will.
Sie lenken nur leider nicht von dem Geschehenen mit Mr. Darcy ab.
Im Gegensatz, ist Stockholm nicht ein Grund für mich, wegzulaufen?
Was garantiert mir, dass ich in Schweden glücklicher werde?
Liegt es nicht eher an mir, ob ich es bin? Muss ich mich nicht erst selbst akzeptieren?
Frau Ribbeck legt die Hand kurz auf meinen Arm, was mich ziemlich überrascht. So eine Geste der Zuneigung hätte ich nie erwartet.

„Ich bin mir sicher Stockholm wird dir gefallen. Und ich weiß, dass du es schaffen kannst.“

Ich freue mich über ihr Vertrauen und merke, wie mein Herz schneller schlägt und die Wunden heilen.
Als ich mich auf den Weg aus dem Hörsaal hinaus mache, nehme ich die Silhouette erst wahr, als ich im Türrahmen vor besagter Person stehenbleibe. Henrys Augen sind so groß wie Untertassen, worauf ich schließe, dass er das Gespräch gehört hat. Dann zeichnet sich echte Freude auf seinem Gesicht ab und er schließt mich in die Arme. Überrascht beginne ich, zu lächeln. „Ist das echt wahr? Ein Stipendium für Stockholm? Wow, Lilac! Das ist der Wahnsinn!“

Ich senke die aufgeregte Stimme. „Ja!“

„Weiß es schon Jule?“, fragt er ebenso leise, was irgendwie süß ist. Ich schüttele den Kopf und laufe rot an.

„Ich wollte es noch für mich behalten.“

Schelmisch zwinkert Henry mir zu und lehnt sich an einen Spind, um mich zu beobachten. „Muss ich mich geehrt fühlen?“, fragt er mit glitzernden Augen.

„Nö“, schnaube ich, „lauschen kann jeder!“, muss aber trotzdem lächeln.

„Tja, tue ich aber trotzdem!“, triumphiert Henry und zupft an meinem Pulli. „Hast du am Wochenende was vor?“

„Ich wollte meine Mum besuchen. Und ihren Freund“, sage ich, „worauf ich gar keine Lust habe!“

„Ich hab ne Idee. Ich komme mit und mache es erträglicher für dich. Und dafür darf ich dich am Sonntag zu einem Ausflug mitnehmen!“

„Du tauchst aber nicht in Fliege und Anzug bei Mum auf, oder?“, frage ich skeptisch und Henry wackelt mit den Augenbrauen. „Warts ab.“

„Ist gebongt.“

„Echt ? Sag bloß du willst ein ganzes Wochenende mit mir verbringen?“

„Es ist nur wegen Mum und Taylor“, sage ich und weiß, dass ich nur schwer verbergen kann, dass es nicht so ist. Denn die Aussicht auf ein Wochenende mit Henry ist alles andere als schlecht...




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