15~ Theorien überdenken

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Mr. Darcy schreibt mir heute mitten in der Nacht, als ich aus der Dusche tappe. Wenn meine Haare beim Schlafengehen nass sind und über Nacht trocknen, werden sie am nächsten Morgen lockig. Das ist eines der Dinge, die ich an mir mag.
Vielleicht will ich auch, dass meine Haare für Henry schön aussehen, weil er gesagt hat, dass sie ihm gefallen.
Weil ich vielleicht will, dass ich ihm gefalle... Aber auch Mr. Darcys Nachricht spukt mir im Kopf herum.

Was, wenn er mich wirklich mag?
Wenn er mich, das heißt die andere Lilac, kennenlernen will?
Was, wenn er vielleicht doch nicht so oberflächlich ist, wie ich dachte?

Ihm scheint sehr wohl etwas an dem zu liegen, wie ich denke. Jeden Tag kommentiert er den Spruch, den ich auf Tinder anpinne. Jedes Zitat bekommt seine Aufmerksamkeit.
Hinter dem Bildschirm fällt es mir leicht, mich mit ihm zu unterhalten und ihm von meinen Gefühlen zu erzählen. Aber was, wenn ihm der Bildschirm irgendwann nicht mehr reicht und ich ihm die Wahrheit sagen muss?

Ich krabbele ins Bett und taste nach dem Handy, das neben dem Tee mit Minze auf dem Nachttisch liegt.

Als ich es entsperre, sehe ich, dass Mr. Darcy geschrieben hat. Ich frage mich, wie er wirklich heißt.
Ist er auch zu schüchtern, um der Welt zu zeigen, wer er ist?

Ich lese gebannt das Gedicht, welches er geschrieben hat:

„Wenn Blätter sich golden,
Der Himmel sich grau,
Bäume sich bunt
Und der Wind sich farblos verfärben,

Wenn die Sonne allmählich blasser,
Die Luft allmählich kälter,
Der Atem irgendwann wolkiger,
Die Bäume irgendwie leerer werden,

Wenn das Jahr sich plötzlich,
Der Sommer sich schneller,
Die Wärme sich unendlicher,
Und sich die letzte Jahreszeit von uns
weiter entfernt,

Wenn alles vorüberzieht,
Ich mit nichts rechne,
Mich in mir selbst verstecke,
Mich selbst verdecke,

Wenn der Wind dich in meine
Richtung weht,
Du plötzlich vor mir stehst,
In der Nähe so real,
Als seist Du immer da gewesen.

Wenn der Herbst die Welt golden färbt, Alles erneut ein Ende nimmt,
Entscheidungen weit hinten liegen,
Fängt die Zeit mit dir gerade erst an.“

Es ist wunderschön“, schreibe ich und fühle mich aus irgendeinem Grund dem Schreiber unglaublich nahe. Nur wieso? Was verbinde ich mit ihm, wenn ich ihn nie kennengelernt habe?

Wenn Männer doch laut meiner Theorie so oberflächlich sind, wieso geht Henry mit mir picknicken?

Und wieso bekomme ich dann um Mitternacht so ein Gedicht?

Ich bin so kurz davor, meine Theorie zu überdenken, mir in Gedanken zu rufen, dass ich falsch lag. Dass ich besonders bin. Dass mich jemand mag. Dass ich gerade ein wunderschönes Gedicht bekommen habe. Doch dann kommt die Erinnerung, dass er nicht weiß, dass ich eigentlich über 90 Kilo wiege.
Entweder wird er die Wahrheit nicht mögen, oder eben, dass ich ihm die Wahrheit eben nicht gesagt habe.

Lilac #freeyourbody ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt