Kapitel 6 - Daniele's Blicke

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Als drei Stunden vorbei waren, standen die Studenten auf und machten sich auf in die Räume der Kunstwissenschaften. Ich ließ mir absichtlich Zeit, doch zu meinem Bedauern entdeckte Niclas mich.

„Valerie? Was für eine Überraschung!"

Nervös tappte ich von einen auf den anderen Fuß, entschloss mich aber dann, die Ruhe zu bewahren. Er stoß Mr. Mistery mit dem Ellbogen an die Seite und sagte leise „Warte mal Alter", der, wie es aussah, davon wollte. Niclas kleine Augen strahlten und er beugte sich vor, um mich zu umarmen. Ich spähte zu Mr. Mistery hinüber. Er hatte wieder einen auffallenden Mantel in beige an. Seine Hände waren in den Taschen versteckt und mit gesenktem Kopf starrte er zu Boden.

„Wie geht's, wie steht's?", fragte mich Niclas. Meinen Blick von dem Geheimnisvollen abwendend, erwiderte ich seine Worte.

„Ganz okay."

„Wie sieht der Baum aus?"

„Wunderschön. Ich habe Fotos gemacht."

„Fantastisch. Schickst du sie mir?"

Ich sah wieder zu Mr. Mistery, der immer noch den Boden anstarrte. Als würde jede weitere Minute, in der er vor mir stand, eine Qual für ihn sein.

Selbst an seiner Brust spannt sein Hemd, wie hart muss er trainiert haben?

„Wie denn?", sagte ich in Gedanken schweifend.

Niclas sah mich verwirrt an.

„Was meinst du genau?"

„Ich meine, wie soll ich dir die Bilder schicken?"

„Ich habe dir eine Freundschaftsanfrage auf Instagram geschickt", sagte er beschämt.

„Oh, echt, hast du?"

Lol.

„Ja", lachte er und kratzte sich an den Kopf.

„Ach, wie unhöflich von mir. Darf ich dir vorstellen?", Niclas zeigte mit seinen Fingern auf den Geheimnisvollen neben sich, „Ein Freund aus der Uni. Ich habe ihn in der Erststudenten-Feier vor zwei Wochen kennengelernt. Das ist Daniele. Dan, das ist Valerie Gavenar. Ich habe sie gestern kennengelernt, als sie einen Tannenbaum kaufte und half ihr ihn zu ihr nach Hause zu transportieren. Sie ist auch im ersten Semester."

Der Typ mit dem Namen Daniele schaute auf und seine leuchtenden blauen Augen durchstocherten die meinen. Er reichte mir weder die Hand, noch begrüßte er mich. Und obwohl er nicht wirklich freundlich war, verfing ich mich ungewollt in seine Augen. Es glich einer Halluzination, wenn man hinein blickte.

„Ja, ich kenne ihn", murmelte ich vor mich hin.

Niclas Mundwinkel hingen runter und enttäuschend sah er mich an.

„Ach? Ihr kennt euch?"

Daniele's Augen gaben ein böses Funkeln von sich und gerade wollte er den Mund öffnen, um wiederirgendetwas Abwertendes zu sagen, als ich ihm die Gelegenheit nahm.

„Ein völlig bedeutungsloser Fall. Sagen wir ein dummes Missgeschick", gab ich als Antwort. In mir drin bebte es vor Aufregung, aber ich gab mir große Mühe möglichst gleichgültig zu wirken. Mein Herz begann schneller zu pochen. Antonio schloss den Mund, presste seine Lippen fest aneinander und blickte mich nur funkelnd an. Kühl blickte ich zu Niclas.

„Sehen wir uns in Kunstwissenschaften?"

Ohne die Antwort abzuwarten, drehte ich mich auf meinem Absatz um und verließ den Raum. Aus dem Winkel erkannte ich, wie Daniele der Mund offen stand, während Niclas verwirrt lächelte und mir hinterher nickte.

1:2, ich hol dich auf, Mistkerl.

Arroganter Mistkerl.

Extrem hübscher und arroganter Mistkerl.

{Die nächste Stunde}

Kunstwissenschaften war weniger anspruchsvoll. Der Professor war dreiundsechzig Jahre alt und danach klang auch die Vorlesung. Ich entschied mich für die erste Reihe. Da der Prof damit beschäftigt war, von sich zu erzählen, holte ich das Handy aus der Tasche und kontrollierte die neuesten Beiträge im Internet. Meine Gedanken lenkten mich auf Daniele.

Wie konnte man so gehässig sein? Ich meine, es muss ein Grund dafür geben, dass Niclas mit jemandem wie ihm abhängt.

Bei der Erststudentenparty war ich nicht dabei. Ich ließ es sausen, weil ich mich beschloss bis zum Semesterbeginn noch möglichst viel Zeit mit meiner Familie und Jackie zu verbringen.


Vorsichtig drehte ich mich um und ließ den Blick über die Menge schweifen. In den hinteren Reihen waren vorwiegend die Plappermäuler. Aber jeder dritte war wie ich am Handy. Auch Niclas, den ich ein paar Reihen hinter mir entdeckte, und neben ihm, da war -

Ach du Scheiße. Ach du Scheiße. Schnell schau weg, Val. Dreh dich sofort wieder um!

Ruckartig wandte ich mich meinem Tisch zu und starrte ihn an. Meine Augen waren aufgerissen und mein Herzklopfen beschleunigt. Mit den Händen klammerte ich den Tisch und betrachtete ihn geistesabwesend. Die hölzerne Oberfläche war alt und bekritzelt von ehemaligen Studenten. Meine Bewegung war so schnell und ruckartig, dass mich sogar der Prof kurz ansah und dann sein Gerede fortsetzte.

Hat Daniele mich gerade wirklich angesehen?

Ich versuchte mich zu erinnern.

Du hast dich umgedreht. Niclas angesehen, dann ihn angesehen. Aber er hat dich hundert Prozent zuvor gemustert.

Seinen Blick empfand ich alles andere als böse, eher interessiert. Als würde er diese Gelegenheit nutzen, um mich unauffällig zu analysieren.

Wieso hat er sofort weggesehen, als ich ihn entdeckt habe? Was stimmt mit diesem Menschen nicht?

Es beunruhigte mich und ließ meine Gedanken nicht mehr los. Es ergab keinen Sinn für mich, da ich zuletzt eher unhöflich als freundlich war. Aber wenn etwas keinen Sinn ergab, dann dieser Mann.

Es muss sich bei ihm etwas bewegt haben, seitdem ich ihm einen Korb gegeben habe. Vielleicht bin ich ja interessant, weil ich die erste Frau in seinem Leben bin, die sich nicht hat einschüchtern lassen. Willkommen im Jahre zweitausend und neunzehn.

Es dauerte mich einige Minuten, bis ich mich entschloss, meinen Fokus umzulenken. Auf jemanden wie Niclas, jemand der weniger kompliziert war. Oder weniger hasserfüllt. Weniger menschenfeindlich.

Ich wechselte das Fenster auf dem Handy und fand mich in Instagram vor. Mein Kopf verdrängte die Stimme des Professors, sodass ich ihn kaum noch beachtete. In der Liste der Freundschaftsanfragen bestätigte ich Niclas' Anfrage. Ich durchstöberte seine Bilder und seine Abonnenten. Unter seinen letzten Bildern gab es ein Post aus seiner Perspektive, rechts von ihm saß ein anderer. Beide hielten ihre Bierflaschen in der Hand und waren vermutlich dabei gerade anzustoßen. Den anderen hatte Niclas markiert, man sah an seinem Handgelenk ein handgemachtes rotes Armband mit weißen Fäden.

Ziemlich untypisch für einen Kerl.

Er war muskulös und hatte einen leicht gebräunten Teint, die Gesichter waren auf dem Bild nicht zu erkennen.

Vielleicht ja schwul.

Unter dem Post stand Neues Leben, neues Glück. WG mit @ToniCaruso. Ich klickte auf das Profil seines Freundes.

Privat.

An dem kaum erkennbaren und viel zu winzigem Profilbild erkannte man einen Menschen von hinten, aufschauend auf eine gewaltige Masse von Tannenbäumen. Diese Stelle kannte ich aus vielen Postkarten und Posts: Es war mein geliebter Cherokee National Forest. In dem Moment betrachtete ich es nur bemitleidenswert und beneidete das Profilbild.

Ich war immer noch nicht dort. Ich kam hierhin, des Waldes wegen. Und ich habe es bisher nicht ein Mal geschafft, den Forest zu besuchen. Kein mickriges, wertvolles, einziges Mal.

Ich lud das gestrige Bild von meinem Tannenbaum hoch. Unter dem Bild setzte ich den Titel „DANKE!" und markierte den Tannenbaum mit @Nic.Charly99. Kichernd steckte ich das Handy in die Tasche und widmete mich den Rest der Vorlesungen den auslaugenden Erzählungen des Profs zu.

Antonio Caruso ~abgeschlossen~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt