Kapitel 17 - Dasher Nenn Ich Ihn

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Während ich meine Gedanken schweifen ließ, merkte ich, dass die stille Quelle hinter mir einen anderen Tonfall hatte. Es war jetzt ungewöhnlich laut und plätschernd, als würde etwas den Strom versperren. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, doch ich entschied mich, ruhig zu bleiben. Vorsichtig drehte ich mich um. Voller Bewunderung entdeckte ich ein Hirsch, der von der kleinen Öffnungsstelle der Quelle trank. Seine Augen waren geschlossen und er konzentrierte sich auf das Trinken.

Wahnsinn, ein echter Hirsch in solch einer unzumutbaren Nähe zum Menschen! Überhaupt nicht menschenscheu...

Ich stand leise auf und nahm die Kamera in die Hand. Zoomend schoss ich ein paar Aufnahmen und war begeistert. Ich musterte den Hirsch. Er war ausgewachsen und hatte ein graubraunes Fell. Sein mächtiges Geweih trug er als Kopfschmuck an sich und es inspirierte mich noch mehr Fotos schießen zu wollen. Seine Augen waren lieblich blau und durchstocherten mich, wenn er mich ansah. Voller Erstaunen bemerkte ich die Spuren des Hirsches, die auf die Höhle zurückführten.

Glück gehabt. Doch keine Wolfshöhle. Aber dann hätte Daniele heute sowieso nicht mehr gelebt.

Es musste seine Wohnstätte sein, da war er sicher vor seinen Feinden. Ich näherte mich dem Hirsch, ohne ihn beängstigen zu wollen. Aber je näher ich kam, desto ängstlicher wurde ich. Seine Ohren drehten sich im Kreise und ab und zu öffnete er die Augen, um mich zu beobachten. aber es schien ihm nichts auszumachen, dass ich ihm so nahe war. Als er fertig getrunken hatte, hob er den Kopf an und beobachtete mich. Seine wachsamen, hellen Augen musterten mich ab. Als er auf mich hinunter schaute, hatte ich den Anschein, dass er mich in Augenschein nahm.

In Augenschein nehmen, wie es Menschen bei anderen Menschen tun. .

Ich ging in die Hocke und trat einen Fuß vor dem anderen.

Noch ein kleines Stück näher, Val.

Er lief immer noch nicht weg. Ich streckte die Hand und streichelte seinen Kopf.

Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn.

Ich dachte ich träumte. Ich streichelte sein Fell glatt und er genoss es. Er schloss die Augen und entspannte bei meinen Streicheleinheiten.

Du wundervolles Tier.

Mit der anderen Hand versuchte ich einige Schnappschüsse von der Nähe zu machen, bis es nicht mehr ging. Ich erreichte den Moment, an dem ich meine Hände vor Kälte nicht mehr spüren konnte. Es wurde sechs Uhr und begann bereits zu dämmern.

„Ich komme wieder, du Schönheit", versprach ich und machte mich auf den Weg zurück.

Zuhause rief ich Jackie an und erzählte ihr in Kurzfassung alles Wichtige was sie hören musste, mit Ausnahme von Daniele. Ich erzählte ihr sogar von dem Hirsch. Meine beste Freundin ließ aber keinen Aspekt aus.

„Sag schon, gibt es da jemanden?"

„Jackie, ich bitte dich."

„Oh mein Gott, es gibt tatsächlich jemanden! Wie heißt er? Wie alt ist er? Woher kommt er?"

„Also schön, vielleicht gibt es da einen", äußerte ich mich. Ich erzählte Jackie alles, was ich über ihn wusste.

„Süße? Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, aber solche Typen kenne ich. Er weiß genau, dass er deine Aufmerksamkeit kriegt, wenn er desinteressiert ist. Er hat wahrscheinlich jeden Abend eine andere Frau an seiner Seite."

„Ja. Vielleicht."


Die nächsten Tage verliefen bei mir eintönig. Dan besuchte die Vorlesungen allen Anschein nach nicht mehr. Ich fand einige Tage später eine Ausrede, um bei Niclas vorbeizuschauen. Er erzählte mir, dass Daniele seit Wochen wegen einer Familienangelegenheit verreist wäre. Generell machte Niclas immer dicht, wenn es um Daniele ging. Er wollte nicht, dass ich mich für ihn interessierte, aber ich hatte keine Kontrolle über meine Neugierde. Ohne Daniele war es leer in den Vorlesungsräumen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er doch da war. Einmal dachte ich, ihn aus dem Augenwinkel gesehen zu haben. Wenn ich mich vertan hätte, und da säße jemand anderes, dann war das eine Sache, aber als ich zum vermeinten Platz blickte, war der Platz sogar leer. Da saß niemand.


Fast täglich besuchte ich den Forest, aber immer nur diesen Ort mit dem Hügel, dem Abhang und dem steilen Weg zur abgeschotteten Höhle. Ich nahm stets die Kamera mit, um einen möglichen besonderen Moment nicht zu verpassen. Phänomenal war es, dass ich auch jedes Mal diesen Hirsch sah. Irgendwann taufte ich ihn auf Dasher, wie eines der Rentiere des Weihnachtsmannes. Wir vertrauten einander mehr und mehr an und ich redete auf ihn ein, als würde er mich verstehen. Meistens erzählte ich ihm von Daniele, manchmal auch von meiner Vergangenheit und meinem alten Zuhause. Von meinen Eltern, oder von Jackie. Das Wetter war für mich deswegen erträglich, weil ich mich an Dasher wärmte. Ich begann bald Eicheln und Nüsse zu kaufen und auf dem Weg zum Hügel uneingefrorene Blätter zu pflücken. Er fraß mir aus der Hand, aber jedes Mal wo er es tat, sah er so menschlich beschämt aus.

Ich sah ihm beim Kauen zu und seufzte.

„Der Moment, an dem ich lieber mit einem Hirsch bin, als unter Menschen. Ist das nicht traurig?" Er hielt den Kopf schräg und blinzelte verständnisvoll mit den Augen.

„Ich weiß. Auf die meisten Menschen kann man verzichten, wem sagst du das?"

Ich tätschelte ihn und lehnte mich mit dem Kopf an seinem Hals. Seine Wärme übertrug sich auf mich und ich genoss es. Obwohl die Tage sich zogen, waren bald die zwei Wochen um und der Termin mit Mister Wickinson stand mir bald bevor.

Doch bei einer der letzten Ausflüge im Forest passierte etwas Unheimliches. Ich verzichtete auf meine Kamera, da ich genug Aufnahmen hatte. Eher ging ich Dasher's wegen dahin. Ich war gerade dabei, den Hirsch zu streicheln, als sein Kopf besorgt aufschaute und seine Ohren sich spitzten.

„Was ist los, Dasher?"

Seine Augen waren auf die Stelle gerichtet, aus der ich immer heraus trat. Aufgerissen und beängstigt. Als ich hinüber sah, erkannte ich gelbe Augen und mein Herz begann zu rasen. Ich versuchte eine Struktur hinter den Augen auszumachen, um zu erkennen wer es war. Oder was es war. Es dauerte nicht lange um dies ausfindig zu machen. Uns stand ein aggressiver, hungriger Wolf gegenüber.

Shit, shit, shit.

Er trat aus den Ästen hervor und knurrte uns mit fletschenden Zähnen an.

Antonio Caruso ~abgeschlossen~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt