1 (Prolog)

2.1K 63 14
                                    

Erschöpft schloss ich die Tür zu Julians und meiner Wohnung auf. Seit Juni lebte ich hier bei ihm, also ein gutes halbes Jahr und es fühlte sich längst wie mein richtiges Zuhause an. Ich schob die Sporttasche auf meiner Schulter zurecht, weil sie zu rutschen begann, schloss die Tür hinter mir und lief ins Wohnzimmer, wo Julian und sein bester Freund Kai saßen und irgendein Videospiel zockten. „Hey Schatz, ich bin zu Hause", ließ ich den Blonden wissen, aber er nickte nur und wandte seine Augen nicht vom Bildschirm des riesigen Fernsehers ab. Ich seufzte leise und lief ins Badezimmer, wo ich meine schmutzige Wäsche in die Waschmaschine steckte. Anschließend legte ich meine offene Sporttasche auf unseren kleinen Balkon, damit sie auslüften konnte, genauso wie meine Fußballschuhe. Das heutige Training war mir irgendwie anstrengender vorgekommen, als sonst. Müde rieb ich mir die Augen und zog mein Handy hervor. Laura hatte mir geschrieben, wie das Training gelaufen war und ich musste lächeln. Seit sie im Mai ihren und Svens Sohn Lennard zur Welt gebracht hatte, war sie keine aktive Spielerin mehr, sondern arbeitete im Management von Bayer Leverkusen. Von Zeit zu Zeit schaffte sie es, uns beim Training zuzuschauen, aber immer klappte das nicht und heute war sie bei irgendeinem auswärtigen Termin gewesen. Ich tippte eine kurze Antwort und öffnete dann die Whatsappgruppe von mir und meinen Brüdern, um die beiden zu fragen, wie es ihnen ging. Manchmal war es immer noch ein seltsames Gefühl, nicht mehr bei ihnen zu wohnen, aber es war wahrscheinlich besser so. Sven hatte für sich, Laura und Lennard ein Haus gekauft und Lars war bei Nele eingezogen. So kam es, dass ich bei Julian einzog, der mir zuliebe jedoch einen Großteil seiner Möbel austauschte und ein wenig Dekoration zuließ. Ich starrte auf mein Handy, aber keiner meiner Brüder antwortete, also ging ich vom Balkon wieder ins angenehm warme Innere der Wohnung und setzte mich lustlos in den Sessel neben dem Sofa, auf dem Julian und Kai saßen. Eine Weile scrollte ich durch die sozialen Netzwerke und postete bei Instagram ein Selfie vom Training heute Mittag, dann machte ich das Handy wieder aus und schaute zu meinem Freund und seinem Kumpel. „Soll ich uns was zu essen bestellen?" „Wir haben vorhin schon was bestellt und gegessen, aber du kannst dir gerne auch noch was bringen lassen", antwortete Julian und ich verkniff mir ein genervtes Stöhnen. Stattdessen stand ich auf und lief in die Küche, wo ich mir einfach einen kleinen Salat anmachte, dazu zwei Spiegeleier und ein Putenschnitzel briet, welches ich dann in Streifen schnitt und über dem Salat verteilte. Um die Jungs im Wohnzimmer nicht zu stören, blieb ich zum Essen in der Küche und räumte sie auf, als ich fertig war. Immer noch unschlüssig, was ich jetzt tun könnte, hörte ich, wie Kai sich von Julian verabschiedete. Schnell ging ich ins Wohnzimmer, wo die beiden sich gerade umarmten. Dann zog Kai auch mich in eine kurze Umarmung, bevor er die Wohnung verließ. Julian schaltete den Fernseher aus und sah mich dann lächelnd an. „Hey Schatz. Wie lief das Training?" War ja klar, dass er jetzt so charmant war, wo er nicht mehr vom Bildschirm abgelenkt wurde. Ich verkniff mir ein Seufzen und setzte stattdessen ein Lächeln auf. „War ganz gut. Und bei euch? Ihr hattet heute Vormittag Videoanalyse, richtig?" „Ja, stimmt. War cool zu sehen, wie wir die Düsseldorfer letzte Woche zerfetzt haben." Ich erwartete, dass er mich genauer zu meinem Training ausfragen oder mich irgendwie anders in ein Gespräch verwickeln würde, aber das geschah nicht. Stattdessen zog Julian sein Handy aus seiner Hosentasche und tippte eine Weile schweigend darauf herum. Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir uns einen schönen gemeinsamen Abend auf dem Sofa hätten machen können, als mein Freund aufstand. "Kevin hat geschrieben, dass er und ein paar Jungs noch feiern gehen und ob ich mit will." "Da gehst du doch nicht wirklich mit, oder? Du hast morgen Vormittag Training", entfuhr es mir entsetzt und Julian verdrehte genervt die Augen. "Bleib cool, ich trinke schon nicht zu viel und kenne meine Grenzen. Mir ist natürlich klar, dass morgen Training ist." Bevor ich noch etwas sagen konnte, war er im Schlafzimmer verschwunden und hatte mich vor den Kopf gestoßen im Wohnzimmer zurückgelassen. Nach fünf Minuten kam er mit neuen Klamotten und dem Hausschlüssel in der Hand zurück und drückte mir einen kurzen Abschiedskuss auf die Lippen. "Bis morgen Schatz. Schlaf gut." Zu einer Salzsäure erstarrt lauschte ich seinen sich entfernenden Schritten, dann knallte die Wohnungstür zu und ich zuckte zusammen. Ein leises Seufzen verließ meine Lippen. Was war bloß aus uns geworden? Wo war der Julian hin, bei dem ich mich wie das Wichtigste auf der Welt gefühlt hatte? Wo war der Julian, mit dem ich um Johanna getrauert hatte? Wo war der Julian, der mich immer zum Lachen gebracht hatte, egal wie wütend ich eigentlich gerade gewesen war? Wo war der Julian, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte? Und wo war die Emily, die sich nicht von der Laune ihres Freundes abhängig machen wollte?




(Bild: Emily, Quelle: Google Bilder)

Plötzlich zwei Verehrer?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt