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Als ich hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, sprang ich sofort auf und lief in den Flur. Julian betrat wie erwartet das Appartement und streifte sich Schuhe und Jacke ab. Als er beides untergebracht hatte, schaute er mich zum ersten Mal an. "Wo hast du übernachtet?", erkundigte ich mich, weil mir nichts besseres einfiel, um ein Gespräch zu beginnen. "Bei Elyas. Und bevor du fragst, ja. Er hat mir erzählt, dass er dich gestern mit deinem Niklas vor der Wohnung gesehen hat. Wieso bist du überhaupt noch hier und nicht schon bei ihm? Willst du mir vorher noch erzählen, es wäre nichts passiert zwischen euch?" "Du klingst so, als ob du dir wünschen würdest, dass ich das jetzt sage." Unentschlossen sah Julian mich an. "Vielleicht wünsche ich mir das. Aber es wäre wahrscheinlich besser, wenn du mir die Wahrheit sagen würdest." Ich schluckte. "Bist du dir sicher, dass du die Wahrheit hören willst?" Julian schüttelte schwach den Kopf und sah mich unglücklich an. Ich hatte Tränen in den Augen, aber ich wusste, dass alles andere als die Wahrheit jetzt nicht fair gewesen wäre. "Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, ob diese Beziehung für mich eine Zukunft hat. Ich weiß nicht, ob ich dich noch genug liebe, um mich immer wieder so verletzen zu lassen. Ich habe seit Beginn unserer Beziehung zurückgesteckt, hab klein bei gegeben, hab mich unterworfen. In den letzen Monaten ist das noch mehr und schlimmer geworden. Ich hab das Gefühl, ich weiß schon gar nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Und die Wahrheit ist, dass ich glaube, dass ich mich nicht selbst wiederfinden kann, wenn ich weiter mit dir zusammen bin." Ich verstummte und es herrschte Schweigen. Für einen schrecklich langen Augenblick war es still, dann öffnete Julian den Mund, um etwas zu sagen. Im selben Moment erklang ein bestialisch lauter Knall, eine Druckwelle nahm mir den Boden unter den Füßen und ich fiel. Dann wurde alles schwarz.

Ich erwachte von Nalas aufgeregtem Bellen. Irritiert blinzelte ich und griff mir ans Ohr, das von einem lauten Piepsen gefoltert wurde. Orientierungslos richtete ich mich auf und schaute mich um. Ich lag im Flur, vor mir lief Nala wild auf und ab. Mein Blick fiel auf Julians blonden Haarschopf und ich sprang auf, um zu ihm zu laufen. Mein Kreislauf erlaubte mir nur drei Schritte, dann fiel ich der Länge nach hin und landete halb auf meinem Freund, der bewusstlos mit einem Teil seines Oberkörpers gegen die Tür gelehnt war. An seiner Stirn war eine große Platzwunde, die er wohl der Tür zu verdanken hatte, gegen die er gefallen war. Ich kontrollierte seinen Puls und seine Atmung, dann zog ich ihn beiseite und öffnete die Wohnungstür, weil ich von unten laute Schreie vernahm. Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase und als ich das Geländer entdeckte, wusste ich auch wieso. Es war in Fetzen gerissen. Die Schreie kamen nicht nur von unten, sondern auch von oben, eigentlich von überall. Unter großer Anstrengung erhob ich mich und stolperte auf den Flur. Mein Blick fiel nach unten ins Treppenhaus, wo zu meinem Entsetzen ein gewaltiger Teil fehlte. Der laute Knall, war das etwa eine Explosion gewesen? Ich lief zurück zu Julian und Nala. Entgegen ihrer Instinkte war sie bei Julian geblieben und stupste ihn immer wieder an. Ich kontrollierte Julians Puls und Atmung erneut, dann hievte ich ihn auf meinen Rücken. "Los Nala, wir müssen hier raus!" Rauch und Staub, die überall herumflogen, kratzten mir in Hals und Nase und ich musste heftig husten. Erst als es ein wenig besser wurde, konnte ich wirklich losgehen. Vorsichtig setzte ich einen Schritt vor den anderen und lief nach unten. Unterwegs begegnete ich allen möglich anderen Bewohnern des Hauses, viele waren verletzt und im ersten Stock war Endstation. Ein Blick nach unten ins Erdgeschoss zeigte mir, dass dort alles in Schutt und Asche lag. Keuchend legte ich Julian ab und sah mich suchend um. "Herr Werner! Was ist denn hier passiert?" "Ich weiß es nicht, aber keiner kommt runter. Da unten sitzt kein Stein mehr richtig auf dem anderen." Ich versuchte angestrengt mich zu beruhigen, aber mein Kopf dröhnte und mir tat alles weh. Ich nickte in Julians Richtung. "Können Sie bitte ein Auge auf ihn haben? Ich schau mal, ob jemand anders mehr weiß." "Natürlich. Aber Seien Sie vorsichtig." Ich nickte, dann lief ich los und schob mich zwischen den anderen Hausbewohnern durch. Ich schnappte einige Wortfetzen auf, dann erklang ein lauter, panischer Schrei. "Hilfe!" Veriwrrt sah ich mich um und suchte nach der Frau, die schrie, aber ich konnte nichts entdecken. "Hilfe! Bitte helft uns! Hier oben!" Ich schaute hoch und entdeckte Lotte. Sie war durch den dicken Rauch hindurch kaum zu erkennen, aber ich sah, dass sie eines ihrer Babys auf dem Arm hatte. So schnell es mein ausgelaugter Körper zuließ, rannte ich nach oben. Zwischendurch stolperte ich immer wieder und fiel hin, meine Hose war bereits zerrissen und ich hatte mir die Knie aufgeschlagen, aber ich konzentrierte mich nur auf Lotte und ihre Kinder. Ich hatte sie fast erreicht, als es ein weiteres Mal ohrenbetäubend knallte. Wieder riss die Druckwelle mich zu Boden und ich landete unsanft auf den Stufen. Dieses Mal wurde ich nicht bewusstlos, nur das stetige Piepsen kehrte in mein Ohr zurück. Ächzend richtete ich mich auf und schaute nach unten, wo es geknallt hatte. Entsetzt riss ich die Augen auf, als ich das erste Stockwerk nicht mehr erkennen konnte. Dicker Rauch versperrte mir die Sicht und ich wurde panisch, denn dieses Mal hörte ich keine Schreie. Die Stille war nahezu gespenstisch. "Julian!", schrie ich so laut ich konnte, aber ich erhielt keine Antwort. Mein Herz schien zu zerreißen, während ich immer wieder Julians Namen rief, ohne eine Reaktion zu hören. Tränen liefen über meine Wangen als mir bewusst wurde, was das vielleicht hieß. Aber das ging doch nicht. Das konnte doch nicht sein. Julian konnte einfach nicht tot sein, das war unmöglich! Plötzlich drang eine Stimme an mein Ohr und ich wurde daran erinnert, wieso ich hier hochgelaufen war. "Emily? Oh mein Gott, Emily, was ist passiert?" Ich schaute nach oben zu Lotte und richtete mich gleichzeitig auf. "Ich glaube es gab eine Explosion. Und ich glaube alle, die unten waren, sind tot." Entsetzt schlug Lotte sich die Hand vor den Mund und ich lief so schnell ich konnte und unter großen Schmerzen zu ihr. Gemeinsam starrten wir ins Treppenhaus hinab, wo sich die Rauch- und Staubwolken langsam lichteten und den Blick auf gigantische Trümmer freigaben. Ich fragte mich, wie das Haus überhaupt noch stehen konnte, gleichzeitig war ich mir sicher, dass wir hier oben gerade die besten Überlebenschancen hatten. Weiterhin liefen Tränen über mein staubbedecktes Gesicht und ich starrte fassungslos nach unten. Leise nahm ich sich nähernde Sirenen wahr und begann zu beten, dass man außer uns nicht nur Leichen finden würde. "Bitte Julian, bitte stirb nicht", flüsterte ich in die unheimliche Stille hinein. Dann erklang ein weiteres Mal ein ohrenbetäubender Knall.

Plötzlich zwei Verehrer?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt