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Völlig übermüdet rieb ich mir die Augen, während ich die Treppe nach oben schlurfte. Noch immer war mir etwas übel und schwindelig, weshalb ich mich gut am Geländer festhielt, bis ich endlich das richtige Stockwerk erreicht hatte. Müde kramte ich in meiner Handtasche auf der krampfhaften Suche nach dem Wohnungsschlüssel, doch ich konnte ihn nicht finden. Meine Aufmerksamkeit wurde umgelenkt, als ich hinter mir ein angestrengtes Ächzen und Gebrabbel mehrerer Babys vernahm. Schnell drehte ich mich um und entdeckte Lotte aus dem Stockwerk über uns, die gerade versuchte, den Kinderwagen ihrer Drillinge die Treppe hochzuhieven. Sofort lief ich zu ihr und packte mit an. "Warte, ich helf dir. Hab schon gesehen, der Fahrstuhl funktioniert heute nicht." "Ja, das ist echt ätzend. Danke." Gemeinsam trugen wir den Kinderwagen bis vor ihre Wohnungstür und stellten ihn keuchend ab. Lächelnd sah Lotte mich an, dann glitt ihr Blick an mir herunter und sie schmunzelte. "Zu lange gefeiert heute Nacht?" Ich nickte verlegen. "Schuldig. Ich wollte mal wieder ein bisschen die Sau raushängen lassen und habs wohl ein wenig übertrieben." "Wo ist denn Julian? Wart ihr nicht gemeinsam feiern?" Ich schüttelte den Kopf und versuchte meine Miene davon abzuhalten, sich genervt zu verziehen. "Er war gestern mit ein paar Freunden aus, genauso wie ich." "Ach so, na dann. Danke für deine Hilfe und jetzt schlaf dich erstmal aus." Ich nickte und verabschiedete mich von Lotte und ihren Kindern, dann joggte ich wieder eine Etage nach unten und machte mich erneut auf die Suche nach meinem Hausschlüssel. Nach fünf Minuten hatte ich ihn endlich gefunden und betrat die Wohnung. Meine Schuhe strampelte ich mir direkt von den Füßen und hängte die Jacke auf, dann führte mein Weg direkt weiter ins Bad, wo ich unter die Dusche sprang und den Gestank von Alkohol und Schweiß abwusch. Als ich wieder frisch war und vor dem Spiegel stand, stellte ich fest, dass ich den Verband an meiner Hand total vergessen hatte. Er war komplett durchnässt und blutdurchtränkt, weshalb ich ihn schnell entfernte und ein Handtusch auf die Wunde drückte, die sich erneut geöffnet hatte. Hastig zerrte ich den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Schrank unterm Waschbecken und verband mich neu, dann wusch ich den alten Verband und das Handtuch vorsichtig aus und schmiss beides zur schmutzigen Wäsche. Aus dem Badezimmerschrank kramte ich frische Unterwäsche und zog sie an, dann lief ich ins Schlafzimmer und schlüpfte in eine lange Trainingshose und einen Bayer-Pulli. Barfuß tapste ich in die Küche, begrüßte unterwegs Nala und machte mir dann eine Tasse Tee. Während meine Lebensgeister langsam erwachten, fragte ich mich, ob Niklas bereits aufgewacht war und meinen Zettel gefunden hatte, auf dem ich ihm erklärt hatte, dass ich los musste, damit ich das Training heute nicht verpasste. Das Aufleuchten meines Handybildschirms, das auf dem Tisch vor mir lag, riss mich aus meinen Gedanken und ich griff danach. Bernd hatte mir geschrieben und sofort machten sich Schuldgefühle in mir breit. Seit dem Beginn der Rückrunde hatten wir es noch seltener geschafft, zu telefonieren oder zu skypen und eigentlich hatten wir das gestern Abend tun wollen, aber ich hatte es vergessen. Mit einem schlechten Gewissen wählte ich die Nummer meines besten Freundes, aber er hob nicht ab, weshalb ich ihm eine Entschuldigung auf die Mailbox sprach und ihn bat, mich zurückzurufen. Als meine Teetasse leer war, stand ich auf und zog mir im Schlafzimmer Socken an, bevor ich mit Nala unseren morgendlichen Spaziergang machte. Als wir eine Stunde apäter zurückkamen, versorgte ich die Hündin schnell mit Futter und Wasser, dann zerrte ich in Windeseile meine Trainingsklamotten aus dem Schrank. Obwohl es bereits Ende März war, war es noch immr ziemlich kalt, weshalb es nicht auffallen würde, wenn ich heute ein langärmliges Untershirt trug. Ich entschied mich für das mit den überlangen Ärmeln, die ein Loch für den Daumen hatten. Darunter konnte ich gut den Verband an der Hand verstecken und musste niemanden anlügen, um zu erklären, wie ich mich verletzt hatte. Die restlichen Sachen fürs Training stopfte ich in meine Sporttasche, dann verließ ich die Wohnung und fuhr los.

Keuchend hielt ich mir die Seite. Es war lange her, seit ich zum letzten Mal Seitenstechen gehabt hatte und es kam mir heute schmerzhafter vor, als jemals zuvor. Nach Luft schnappend ging ich leicht in die Hocke und stützte mich auf meinen Knien ab. Langsam beruhigte sich meine Atmung wieder und ich erhob mich, um weiterzutrainieren. Achim, unser Trainer seit Beginn der Saison, machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung, indem er mich zu sich rief. Betont lässig joggte ich zu ihm, doch sein besorgter und zugleich forschender Blick machte mir schnell klar, dass er mitbekommen hatte, wie schlecht meine Kondition heute war. "Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst heute nicht fit." "Ich hab nur schlecht geschlafen, das ist alles." Der forschende Blick verstärkte sich. "Wirklich? Du weißt, dass ich dich nur auf dem Platz gebrauchen kann, wenn du 110% geben kannst." Ich nickte. "Ich weiß." "Okay. Ich möchte, dass du die restliche halbe Stunde mit Maurice arbeitest. Ich möchte deine Kondition heute nicht überstrapazieren und etwas riskieren. Er soll mit dir was für die Kraft machen, okay?" Ich nickte erneut, woraufhin Achim unseren Athletiktrainer Maurice zu sich winkte und ihm erklärte, was er mit mir vorhatte. Fünf Minuten später stand ich im Kraftraum und Murice zeigte mir die erste Übung. Ich gab mir die größte Mühe, alles perfekt auszuführen und biss die Zähne zusammen, wenn die Kraft mich verlassen wollte. "Okay, zum Abschluss machen wir jetzt mal noch was für die Arme und den Oberkörper. Komm mal hier rüber." Ich folgte dem Athletiktrainer zu einem Barren und er zeigte mir, wie ich mich dazwischenstellen und hochdrücken sollte. Mir war eigentlich sofort klar, dass ich diese Übung nicht machen konnte, weil sie die Wunde an meiner Hand wieder aufreißen würde, aber das verdrängte ich und stellte mich zwischen die Stangen. Schon das erste Hochdrücken löste höllische Schmerzen in meiner Hand aus, aber ich biss die Zähne zusammen und schaffte es, die Übung vier Mal durchzuführen, dann spürte ich eine warme Flüssigkeit an meinen Fingern und auch Maurice entdeckte das Blut. "Halt, hör auf. Du blutest." Ich stellte mich wieder hin und griff mit der rechten Hand nach der verletzten linken. "Das ist nichts", versuchte ich meinen Trainer zu überzeugen, aber er ließ sich nicht beirren und griff nach meiner Hand. Vorsichtig zog er mir das Shirt über den Daumen und schob den Ärmel nach oben, sodass der Verband offenbart wurde. Sofort weiteten sich seine Augen. "Was ist das? Wieso hast du nichts gesagt? Was ist da passiert?" Ich seufzte. "Mir ist gestern eine Vase runtergefallen und ich war zu blöd, um die Scherben aufzuheben. Aber das ist halb so wild." "Das lässt du Dr. Meyer entscheiden, als Mannschaftsärztin entschiedet sie, was halb so wild ist. Geh zu ihr und ich informiere Achim." Ich wollte Maurice überreden, mich nicht zu verpfeifen, wusste aber, dass das zwecklos gewesen wäre. Er war ein cooler Typ, aber Verletzungen jeglicher Art nahm er sehr ernst. Also verkniff ich mir einen Widerspruch und nickte bloß, bevor ich den Kraftraum verließ und zum Zimmer der Mannschaftsärztin lief. Dort musste ich erneut berichten, was passiert war und Dr. Meyer kontrollierte, dass keine wichtigen Sehnen oder Ähnliches verletzt waren, bevor sie mich mit einer Kompresse und einem Verband versorgte. Sie war gerade fertig, als Achim den Raum betrat. Schuldbewusst senkte ich den Blick und mein Trainer ignorierte mich vorerst. Stattdessen erkundigte er sich bei unserer Mannschaftsärztin, ob ich trotz der Verletzung spielen konnte und wie die Prognose aussah. Nachdem er seine Auskunft bekommen hatte, bat er Dr. Meyer das Zimmer zu verlassen, dann sah er mich an. Ich spürte seinen Blick beinahe brennend auf mir und hob widerwillig den Kopf. "Ich muss dir hoffentlich nicht sagen, dass es falsch war, dass du mir deine Verletzung verschwiegen hast." Ich nickte, Achim seufzte. "Wir sind hier alle Kollegen, fast schon eine Familie. Da ist es wichtig, dass man sich vertraut und ehrlich zueinander ist. Ich erwarte von meinen Spielerinnen, dass sie mir so wichtige Dinge wie Verletzungen nicht verschweigen, verstanden?" Wieder nickte ich. "Also schön. Wie du gehört hast, spricht nichts dagegen, dass du am Wochenende spielst, aber ich werde dich trotzdem nicht mitnehmen." Fassungslos starrte ich den Trainer an. "Wie bitte? Ich werd nichtmal im Kader sein?" "Richtig. Ich möchte, dass du dich den Rest der Woche ausruhst und nur individuelle Trainingseinheiten mit Maurice und mir absolvierst. Du bist im Moment nicht fit und solange ich mir nicht sicher sein kann, dass du auf deinen Körper hörst, wirst du nicht spielen." Ich verkniff es mir, dem Trainer zu widersprechen und nickte bloß, woraufhin Achim mich für heute verabschiedete und nach Hause schickte. Frustriert ließ ich das Duschen ausfallen, schnappte mir in der Umkleide stumm meine Tasche, ignorierte die fragenden Blicke meiner Mitspielerinnen und stieg ins Auto. Was für ein beschissener Tag.

Plötzlich zwei Verehrer?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt