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Müde schloss ich die Wohnungstür auf und hängte meinen Schlüssel an den dafür vorgesehenen Platz, bevor ich mich aus meiner Jacke schälte. Nach dem unschönen Telefonat mit Julian hatte ich eine Weile gebraucht, um mich zu beruhigen, bevor ich schließlich losgefahren war und mein Freund war offensichtlich bereits vom Arzt zurück. Die Geräusche des Fernsehprogramms schallten durch die Wohnung und wie erwartet, saß Julian im Wohnzimmer auf der Couch und schaute irgendeine Serie. "Hi", begrüßte ich ihn vorsichtig und er schaltete sofort den Fernseher leise. "Das ist alles, was du zu sagen hast? Keine Entschuldigung oder so?" Ich schluckte. "Es tut mir Leid. Ich hab mich echt beeilt und dann wollte ich einen Umweg nehmen, um dem Stau in der Stadt aus dem Weg zu gehen und dann war da-" "Ich will es gar nicht wissen! Ehrlich nicht. Aber nächstes Mal sagst du mir gefälligst früher Bescheid, damit ich mir nicht so einen Stress machen muss." Ich schluckte, aber die Wut verschwand nicht und ich explodierte. "Du bist so ein verdammtes, egoistisches Arschloch, Julian Brandt! Immer geht es nur um dich, um deine Termine, um deine Karriere, um deine Freunde, um deine Lust feiern zu gehen, um dein Training, um deine Erfolge und Misserfolge, um dein verficktes Leben! Aber ich hab auch ein Leben, ob du es glaubst oder nicht. Und während du hier ja den ach so großen Stress hattest, habe ich es geschafft, ein Mädchen davon abzuhalten, sich von einer Brücke zu stürzen! Und das wüsstest du schon längst, wenn du mich ein einziges Mal hättest ausreden lassen! Wenn du nicht bald mal checkst, dass ich auch ein Mensch mit einem eigenen Leben bin, dann macht das mit uns beiden vielleicht keinen Sinn mehr!" Ich verstummte und realisierte erst jetzt, dass meine Wangen feucht waren, weil ich einige Tränen vergossen hatte. Entschlossen straffte ich die Schultern und schenkte dem sprachlosen Julian einen letzten abfälligen Blick. "Ich schlafe heute woanders. Gute Nacht." Mit diesen Worten drehte ich mich um und ließ meinen verdatterten Freund zurück. So schnell ich konnte, lief ich zu meinem Auto, wo ich den Motor startete und losfuhr. Erst, als ich um mehrere Ecken gebogen war, parkte ich am Straßenrand und begann bitterlich zu weinen, weil mir jedes Wort, das ich Julian gerade an den Kopf geworfen hatte, selbst unglaublich weh getan hatte.

"Hey, was machst du denn hier?" Überrascht sah Laura mich an, als sie mir ihre Haustür öffnete. "Kann ich heute Nacht hier schlafen?" "Klar, aber was ist denn passiert? Hast du etwa geweint?" Ich nickte schwach und rieb mir über die Augen, woraufhin Laura einen Schritt zur Seite machte. "Komm erstmal rein. Möchtest du einen Tee oder irgendwas zu essen?" "Tee wäre super", antwortete ich leise und meine beste Freundin lief in die Küche, während ich ins Wohnzimmer ging. Sven saß mit seinem Sohn auf dem Schoß vor dem Fernseher und sah überrascht auf, als ich den Raum betrat. "Hey Em, was machst du denn hier?" "Laura meinte, ich kann heute Nacht hier schlafen." Jetzt läuteten bei meinem großen Bruder sämtliche Alarmglocken. "Wieso? Ist was passiert? Hattest du Streit mit Julian?" Ich nickte schwach. "Aber ich will nicht drüber reden, ich bin hundemüde." Sven nickte verständnisvoll und ich rechnete ihm sein Schweigen hoch an, denn ich wusste, dass sein Großer-Bruder-Instinkt ihn eigentlich zwang, alles über den Streit herauszufinden, um Julian gegebenenfalls zusammenzuschlagen. Laura kam zu uns ins Wohnzimmer und reichte mir eine dampfende Tasse, die ich dankbar entgegennahm und nochmal auf dem Couchtisch abstellte, weil der Tee noch viel zu heiß war. "Kann ich vielleicht eine Jogginghose und ein T-Shirt von dir haben?" "Klar. Du kannst dir einfach selbst was raussuchen, du weißt ja, wo die Sachen im Schrank sind und was dir passt und was nicht." Ich nickte und stand auf, um ins Schlafzimmer der beiden zu gehen, wo ich meine Jeans gegen eine Jogginghose tauschte. Zum Schlafen suchte ich mir auch ein T-Shirt raus, ließ aber vorerst meinen schwarzen Bayer-Pulli an. Als ich mich auf den Rückweg ins Wohnzimmer machte, hörte ich Laura und Sven miteinander reden. "Was denkst du, was zwischen den beiden vorgefallen ist?", erkundigte sich mein Bruder besorgt. "Keine Ahnung, aber sie haben sich zuletzt glaub ich öfter mal in die Haare gekriegt. Da war es allerdings nicht so schlimm, dass sie woanders übernachtet hat." "Hm. Wie auch immer, jetzt ist sie hier. Das Gästebett hattest du ja vorgestern erst frisch bezogen und vielleicht ist sie morgen früh gesprächiger." Ich beschloss, dass ich nicht weiter lauschen wollte und betrat das Wohnzimmer, wo ich mich neben meine beste Freundin auf die Couch fallen ließ. Anschließend griff ich nach meiner Teetasse und nahm einige Schlucke, die mich angenehm von innen wärmten. Ein leises Seufzen entfuhr mir und ich bemerkte Lauras Blick auf mir. Fragend sah ich sie an und sie klopfte sich leicht auf die Schulter. Ich lächelte schwach, denn lehnte ich mich gegen sie und legte meinen Kopf auf ihrer Schulter ab. Müde schloss ich die Augen, die von den heute geflossenen Tränen ziemlich gereizt waren. Mit der Zeit ergriff die Müdigkeit immer mehr Besitz von mir und sobald ich den letzten Schluck Tee getrunken hatte, erhob ich mich schwerfällig von der Couch und gähnte. "Ich geh dann mal ins Bett. Gute Nacht." "Gute Nacht und schlaf gut. Morgen früh sieht die Welt schon anders aus." Ich nickte schwach, dann griff ich nach dem T-Shirt und lief ins Badezimmer, wo ich eine der Gästezahnbürsten benutzte und mich bettfertig machte. Anschließend schlurfte ich ins Gästezimmer und kuschelte mich dort in Kissen und Decke, doch so müde ich auch war und so sehr ich auch schlafen wollte, ich schaffte es nicht. Erst als der Wecker auf dem Nachttisch fast vier Uhr morgens anzeigte, fielen mir schließlich doch die Augen zu und ich verfiel in einen unruhigen Halbschlaf.

Der Wecker, den ich mir gestellt hatte, riss mich um halb neun unsanft aus meinem leichten Schlaf. Seufzend schlug ich die Augen auf und brauchte einen kurzen Moment, um mich zu orientieren. Dann fiel mir wieder ein, was gestern Abend passiert war und ich seufzte ein weiteres Mal. Unmotiviert griff ich nach meinem Handy und schaltete den Flugmodus aus, woraufhin sofort unzählige Nachrichten im Sperrbildschirm aufploppten. Viele waren von Julian, aber überraschenderweise gab es auch viele in irgendwelchen Gruppen, mehrere Mädels aus dem Verein und auch ein paar Jungs aus Julians Mannschaft hatten mir geschrieben. Verwirrt ignorierte ich die vielen Nachrichten erstmal und stand auf. Im Badezimmer spritzte ich mir Wasser ins Gesicht und machte mich etwas frisch, dann schlüpfte ich wieder in die Jeans und den Pulli, die ich gestern getragen hatte. Noch immer müde lief ich in die Küche, wo Laura saß und gerade herzhaft in ein Brötchen biss. Als sie mich bemerkte, begann sie zu lächeln. "Guten Morgen du Lebensretterin." Irritiert starrte ich sie an. "Wovon redest du?" "Du bist in allen sozialen Netzwerken mit deiner Rettungsaktion von gestern Abend. Wieso hast du uns denn nicht erzählt, was passiert ist, bevor du dich mit Julian gestritten hast?" Ich schüttelte ungläubig den Kopf. "Wieso bin ich in allen sozialen Netzwerken?" "Irgendjemand hat das Ganze aus einiger Entfernung gefilmt, aber man erkennt dich gut." "Ernsthaft? Jemand hat gefilmt, wie ein Mädchen sich umbringen wollte?", hakte ich entsetzt nach und Laura nickte. "Hier, schau es dir selbst an." Sie griff nach ihrem Handy, das neben ihr lag und reichte es mir. Ich startete das Video, das mir angezeigt wurde und schwieg, während eine Männerstimme im Hintergrund eine lachende junge Frau filmte. Dann entdeckten sie Ronja und die Frau rief sofort die Polizei, während dem Mann auffiel, dass ich mich dem Mädchen näherte. Man konnte nicht hören, was Ronja und ich sprachen, aber man sah, welche Wirkung meine Worte hatten. Das Video endete in dem Moment, wo ich mich von dem Feuerwehrmann verabschiedete und zu meinem Wagen ging. Genervt gab ich Laura ihr Handy zurück. "Das ist echt das Letzte! Ronja will bestimmt nicht, dass man ihr Gesicht überall bei Social Media sieht." "Ich dachte mir, dass du sowas sagen würdest, deshalb hab ich schon beim Verein angerufen und mit den Nerds geklärt, dass sie ihr Bestes geben, um den Clip aus dem Netz zu bekommen und noch vorhandene Videos mit einem schwarzen Balken über dem Gesicht des Mädchens auszustatten. Und die Presseleute versuchen mit den Nachrichtensendern zu verhandeln, damit die das Video nicht mehr ausstrahlen oder wenigstens so einen schwarzen Balken benutzen." "Gut, danke. Hast du noch ein Brötchen für mich?" "Klar." Ich begann zu frühstücken und realisierte dabei, wieso mir heute morgen so viele Leute geschrieben hatten. Innerlich verdrehte ich die Augen, denn auf diese mediale Aufmerksamkeit hatte ich absolut keine Lust. Und sie war auch falsch. Denn sie legten den Fokus auf mich und mein Handeln und nicht auf die traurige Wahrheit, dass ein junges Mädchen keine Zukunft mehr für sich gesehen hatte.

Plötzlich zwei Verehrer?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt