"Du bist wach." Schwach lächelte ich und humpelte mit Hilfe der Krücken zu Julians Bett. Er erwiderte mein Lächeln, aber es wirkte unsicher und wacklig, als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass es richtig war zu lächeln. "Ja, ich bin wach. Die Ärzte haben mir auch schon erzählt, was passiert ist. Wie gehts dir?" "Besser als dir offensichtlich." "Hm, ja. Der Arzt hat gesagt, ich wäre beinahe gestorben. Anscheinend hatte ich von einer starken Erschütterung am Kopf eine Hirnblutung und als ich dann in der Nähe der zweiten Explosion war, hat das die Blutung noch verschlimmert. Außerdem haben ein paar Trümmer mich ziemlich zerquetscht. Aber ich lebe noch." Ich seufzte leise und setzte mich auf einen Stuhl neben seinem Bett. "Es tut mir so Leid, Julian. Ich hab dich im ersten Stock gelassen, um zu Lotte zu gehen und dann kam die zweite Explosion und hat das gesamte Stockwerk in Fetzen gerissen. Du hättest sterben können, weil ich dich dort gelassen habe." Durchdringend sah der Blonde mich an und griff nach meiner Hand. Automatisch hob ich den Blick und schaute ihn ebenfalls an. "Hey, mach dir keine Vorwürfe. Dich trifft keine Schuld. Du wusstest nicht, dass es noch eine Explosion geben würde. Das konntest du gar nicht wissen." Ich schluckte. "Trotzdem. Ich hab dich zurückgelassen. Ich hätte bei dir bleiben sollen, um auf dich aufzupassen." "Bitte Emily, ich mein's ernst. Dich trifft keinerlei Schuld an meinem Zustand. Am körperlichen zumindest nicht." Während er das sagte, ließ der Blonde meine Hand los und sein Blick wurde traurig. Ich wusste sofort, worum es ging. "Willst du wirklich jetzt darüber reden?", erkundigte ich mich besorgt und Julian nickte entschlossen. "Wir können es nicht aufschieben, nur weil die Explosionen dazwischen gekommen sind. Da hattest mir immerhin gerade erzählt, dass du keinen Sinn mehr in unserer Beziehung siehst." Ich schluckte. "Julian, ich- ich hab Niklas geküsst. Vorgestern, nachdem du abgehauen bist. Es tut mir Leid, ich wollte dich wirklich nicht verletzen." Für einen kurzen Moment schwiegen wir, dann nickte der Blonde schwach und ich sah, dass es in seinen Augen verdächtig glitzerte. "Wo bleibt der Teil, in dem du mir versicherst, dass es ein schrecklicher Fehler war, den du bereust?" Jetzt traten auch mir Tränen in die Augen und ich biss mir auf die Lippe. "Der Teil wird nicht kommen. Bitte glaub mir, dass ich es bereuen will. Ich würde dir so gerne versichern, dass ich den Kuss bereue, aber das wäre gelogen und ich will dich nicht anlügen. Es tut mir Leid, dass ich dich verletzt habe, aber ich bereue den Kuss nicht. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich so empfinde, aber es ist so." Eine einzelne Träne lief über Julians Wange und tropfte von seinem Kinn, traurig sah er mich an. "Dann ist das wohl das Ende unserer Beziehung." Ich nickte schwach und wischte mir über die Augen. "Ja, das ist es wohl. Ich weiß nicht, in welchem Zustand die Wohnung ist, aber egal wie sie aussieht, ich werd mir so schnell wie möglich eine neue suchen." "Okay." "Okay. Dann gehe ich jetzt mal besser. Deine Familie war ja bestimmt gestern schon hier und kommt demnächst wieder, wenn die Besuchszeit offiziell beginnt." "Ja, gute Idee." Ich stand auf und griff nach meinen Krücken, dann sah ich Julian nochmal an. "Ich denke es wäre gut, wenn wir erstmal nicht mehr so viel Kontakt haben. Aber ich würde mich freuen, wenn du mir irgendwann vergeben kannst und wir wieder sowas ähnliches wie Freunde werden könnten. Du bist mir immer noch wichtig, Julian. Das wirst du immer sein." Mit diesen Worten verließ ich den Raum und humpelte zurück auf mein Zimmer. Zu meiner Überraschung wartete dort ein dunkelhaariger Gast auf mich. "Niklas. Was machst du hier?" Er stand auf und stellte sich verlegen vor mich. "Dich besuchen. Schauen, wie es dir geht." "Mir geht's gut, hab ich doch gesagt. Die Verletzungen sind nicht so schlimm." Vorsichtig griff Niklas nach meiner Hand, aber ich zog sie weg. Schmerz strahlte in seinen Augen auf und er sah mich verletzt an. "Du hast dich also für Julian entschieden. Weiß er von dem Kuss?" "Ja, er weiß von dem Kuss. Aber ich hab mich nicht für ihn entschieden." Verwirrt sah Niklas mich an. "Was?" "Julian und ich haben uns getrennt." Neue Hoffnung erfüllte die Augen meines Gegenübers und es schmerzte zu wissen, dass ich sie gleich zerstören würde. "Niklas, ich entscheide mich für keinen von euch, weil es niemals eine Wahl zwischen euch gab. Ich habe nicht dieselben Gefühle für dich, wie du für mich. Und du hast etwas Besseres verdient, als jemanden, der dich nur benutzt, um über seine zerbrochene Beziehung hinwegzukommen. Du bist ein toller Kerl, ein unheimlich guter Zuhörer, liebevoll wie nur wenige Männer es sind. Eines Tages wirst du jemanden sehr glücklich machen und dieser jemand wird dann auch dich glücklich machen. Aber dieser jemand bin nicht ich." "Du könntest es werden", versuchte Niklas mich umzustimmen, aber ich schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. "Ich hab mich nicht von Julian getrennt, um mit dir zusammen sein zu können. Ich hab mich von ihm getrennt, weil ich mich selbst verloren habe und nicht mehr atmen konnte. Jetzt hab ich die Chance, von vorne anzufangen. Und die werde ich nutzen. Ohne Julian und ohne dich. Weil ich keinem von euch noch mehr Schmerz zufügen möchte, als ich es ohnehin schon getan habe." Niklas wiegte schwach den Kopf auf und ab, dann seufzte er leise. "Ich verstehe. Dann war es das wohl." Ich nickte leicht und bemühte mich, nicht zu weinen. Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, hatte ich zwei Schritte auf den Dunkelhaarigen zugemacht und schloss ihn in meine Arme. Ein letztes Mal sog ich seinen vertrauten Geruch ein, dann ließ ich von ihm ab und küsste ihn sanft auf die Wange. "Leb wohl, Niklas." Seine Antwort war kaum mehr als ein Flüstern. "Leb wohl, Emily." Und dann ging er und ich blieb zurück.
"Okidoki, hast du alles?" Ich nickte und umgriff die Krücken fester. Sven lächelte mir aufmunternd zu und nahm die Tüte mit meinen kaputten, dreckigen Klamotten in die Hand. "Dann lass uns gehen. Willst du vorher noch bei Julian vorbeischauen oder hast du dich schon von ihm verabschiedet?" "Ich hab mich schon verabschiedet. Wir können direkt los." Um Fassung bemüht ließ ich meine emotionslose Miene erstarren und folgte meinem Bruder stumm aus dem Krankenhaus. Während der Autofahrt blieb ich still, aus dem Radio dudelte leise Musik, die ich aber nur schlecht hörte, weil ich ja auf der einen Seite ein Loch im Trommelfell hatte. Schließlich blieben wir stehen und stiegen aus. Vor mir erhob sich das Haus, das ich die letzten Monate mein Zuhause genannt hatte. Von den unteren Stockwerken fehlte ein ganzer Teil und man sah noch immer haufenweise Trümmer. Viele Leute hatten Kerzen und Blumen vor das Gebäude gestellt und Fotos erinnerten an die Opfer der Explosionen. Mittlerweile war klar, dass es ein Gasleck gegeben hatte und als dann jemand im Erdgeschoss ein kleines Feuer in der Küche entfacht hatte, hatte es die erste Explosion gegeben, die die anderen wie eine Kettenreaktion mit sich zog. Die Feuerwehr hatte den Rest des Gebäudes mit großen Pfeilern gestützt und für betretbar erklärt. Alle Anwohner waren aufgefordert, ihre Wohnungen zu räumen, weil das Gebäude komplett saniert werden musste. Da Julian alle Möbel gekauft hatte, musste ich nur meine Kleidung, meine Deko und meine Sachen aus dem Badezimmer mitnehmen. Sven hatte dafür bereits Kartons im Kofferraum, die wir jetzt in die Wohnung trugen. Während ich schweigend all meine Sachen packte, nahm ich im Stillen Abschied. Abschied von der Wohnung, von der Zeit, die ich hier verbracht hatte, von der Beziehung, die ich hier geführt hatte, von Julian, von uns. Es dauerte nur eine Stunde, dann hatte ich alles wichtige verstaut. Einige Dinge waren noch von mir, aber ich brauchte sie vorerst nicht und bei manchen Dingen wusste ich, wie sehr Julian sie liebte und wollte, dass er sie behielt. Gemeinsam mit Sven räumte ich alles in sein Auto, dann fuhren wir zu ihm nach Hause und ich bezog das Gästezimmer. Wenige Stunden später kam Laura mit Lennard nach Hause und während der Kleine spielte, saßen wir drei auf dem Sofa. Meine beste Freundin erzählte von Neuigkeiten aus dem Verein, dann erkundigte sie sich nach Julian. "Weißt du schon, wann er entlassen wird?" "Nein, keine Ahnung." "Wo wollt ihr dann eigentlich hinziehen? Er wird ja wohl entlassen, bevor das Haus saniert wurde." "Ich könnte mir vorstellen, dass er zu irgendeinem Kumpel zieht, bis er was Neues hat." Verwirrt schauten Laura und Sven mich an. "Wieso nur er? Ihr sucht euch doch wieder gemeinsam eine Wohnung, oder?" Ich schluckte, dann schüttelte ich den Kopf. "Nein, wir werden nicht wieder zusammen ziehen." "Aber wieso denn nicht? Habt ihr momentan Streit? Das wird bestimmt wieder, ihr schafft es doch immer, euch zu versöhnen." Schwach schüttelte ich den Kopf. "Nein, dieses Mal werden wir uns nicht versöhnen. Wir haben Schluss gemacht. Es ist aus, endgültig."
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Plötzlich zwei Verehrer?
FanfictionFortsetzung von Plötzlich zwei Brüder? Seit fast einem Jahr sind Emily und Julian zusammen und scheinen glücklich zu sein. Doch der Schein trügt, denn immer öfter geraten die beiden in Streit. Emily ist zunächst überzeugt, ihre Beziehung noch retten...