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Erst als ich die Tür der Wohnung öffnete und das Geräusch des laufenden Fernsehers hörte, fiel mir auf, dass Julian heute Morgen nicht zu Hause gewesen war. Ich unterdrückte ein Seufzen, schlüpfte aus Schuhen und Jacke und lief ins Wohnzimmer. Die verbundene Hand versteckte ich, indem ich den Ärmel meines Shirts über meine Hand zog, dann erblickte ich Julian. Er lag schlafend auf der Couch und schnarchte leise, wie fast immer, wenn er zu viel getrunken hatte. Vorsichtig griff ich nach der Fernbedienung, die halb unter seinem Körper vergraben war und schaltete die gerade laufende Dauerwerbesendung aus, dann musterte ich meinen Freund genauer und stellte fest, dass er noch immer die Klamotten von gestern trug. Erst jetzt stieg mir der Gestank in die Nase, derselbe Gestank, den ich am Morgen an mir selbst gerochen hatte, nur viel intensiver. Traurig griff ich nach der Decke, die über der Sofalehne hing und breitete sie über Julian aus, dann hob ich die Sporttasche, die ich abgestellt hatte, wieder auf und lief ins Bad. Unter kaltem Wasser versuchte ich das Blut aus meinem Shirt zu waschen, dann landete die dreckige Wäsche im Wäschekorb und ich stieg unter die Dusche. Dieses Mal dachte ich vorher daran, mir eine Plastiktüte um die Hand zu wickeln, um den Verband und die Wunde zu schützen. Sobald ich mir den Schweiß vom Körper gewaschen hatte, wickelte ich mich in ein flauschiges Handtuch und zog mir frische Sachen an. Während ich im Schlafzimmer dicke Socken anzog, hörte ich im Wohnzimmer mehrere Stimmen. Julian war zwischenzeitlich wohl aufgewacht und hatte jetzt Besuch bekommen. Seufzend erhob ich mich und versuchte zu lächeln, während ich ins Zentrum der Wohnung lief. Julian saß auf dem Sofa und neben ihm saß ein Typ, den ich noch nie gesehen hatte. Er hielt eine Zigarette in der Hand und stieß immer wieder Rauchwolken aus, während er redete. Ich räusperte mich, um die Aufmerksamkeit der beiden zu bekommen und lächelte, aber Julian sah mich bloß genervt an und nickte in meine Richtung. "Das ist Emily." Ich zog eine Augenbraue hoch. "Möchtest du mir unseren Gast nicht vorstellen?", erkundigte ich mich, woraufhin mein Freund die Augen verdrehte. "Das ist Elyas." "Freut mich, dich kennenzulernen, Elyas." "Jo, mich auch. Sag mal, habt ihr Bier da?" Ich schüttelte den Kopf, doch zu meiner Überraschung bejahte Julian die Frage. "Klaro. Ich geh's holen." Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf und ich fragte mich, ob Julian wohl bedachte, dass er heute am späten Nachmittag noch Training hatte. Aber als mein Blick auf meine verletzte Hand fiel, die ich unter dem Ärmel meines Cardigans versteckte, beschloss ich zu schweigen. In diesem Moment kam Julian mit zwei Bierflaschen wieder und ich entschied, dass ich hier nicht länger bleiben wollte. "Ich muss nochmal weg. Wir sehen uns später." "Mhm", war alles, was ich von meinem Freund als Antwort bekam und ich beeilte mich, Schuhe und Jacke anzuziehen. In letzter Sekunde dachte ich an meinen Schlüssel und steckte ihn ein, dann öffnete ich die Wohnungstür. "Emily!" Beim Klang von Julians kalter Stimme zuckte ich zusammen. "Ja?" "Nimm den Hund mit!" Ich schluckte und lief zurück ins Wohnzimmer. "Klar, mach ich." Ich merkte selbst, wie leise meine Stimme geworden war, versuchte es aber zu ignorieren. Kaum hatte ich mit Nala zusammen die Wohnung und das Haus verlassen, atmete ich erleichtert auf. Schnell zog ich mein Handy aus meiner Jackentasche und tippte darauf herum. Mir fiel nur eine Person ein, zu der ich jetzt gehen wollte. Sobald sein Name auf dem Display erschien, begann ich zu lächeln und tippte auf seine Nummer. Er hob bereits nach dem zweiten Tuten ab. "Na, Training schon vorbei?" "Ja, lief aber eher nicht so gut. Hast du Zeit?" "Für dich doch immer. Wo wollen wir uns treffen?" "Nicht bei mir. Julian ist da und hat Besuch." "Okay, bei mir sind mein Vater und die Frau vom Pflegedienst." "Dann lass uns doch in irgendeinem Café treffen? Außer dass es kalt ist, ist das Wetter ja nicht schlecht. Wir könnten anschließend spazieren gehen." "Klingt gut. In zehn Minuten am Marktplatz?" "Perfekt. Bis gleich." "Bis gleich." Er legte auf und ich verstaute mein Handy wieder in meiner Jackentasche, bevor ich Nalas Leine fester griff und den Weg zum Marktplatz einschlug. Als ich dort ankam, wurde ich bereits erwartet. Lächelnd schloss Niklas mich in seine Arme und ich atmete seinen mittlerweile vertrauten Geruch ein. Wir setzten uns ins Café und in den nächsten Stunden half der Dunkelhaarige mir, all den Alltagsstress hinter mir zu lassen. Es war wundervoll, entspannt mit ihm hier zu sitzen, ohne sich Gedanken zu machen, weil er zurück zu seinem Vater oder ich zu Julian musste. Seit knapp zwei Monaten kümmerte sich eine Frau vom Pflegedienst um Niklas' Vater und ihm wurde jeden Tag aufs Neue bewusst, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, seinen Stolz runterzuschlucken und die Pflege seines Vaters zum Teil abzugeben. Lächelnd nippte ich an meiner heißen Schokolade, während der Dunkelhaarige mir gerade von seiner Nichte Amelie erzählte, die morgen bei einem Konzert in der Schule mitspielen würde. Der Stolz auf die Kleine glänzte in seinen Augen und ich wurde nicht müde, seiner Stimme zu lauschen. Niklas war ein fantastischer Zuhörer, aber er konnte auch genauso gut reden. Erst als die Kellnerin uns verlegen darauf aufmerksam machte, dass das Café gleich schließen würde, schaute ich wieder auf die Uhr. Es war fast 19 Uhr und ich hatte absolut keine Lust, jetzt schon in die Wohnung zurückzugehen. Wir bezahlten und standen auf, dann standen wir planlos vor dem Café. "Was machen wir jetzt?", erkundigte ich mich und Niklas zuckte die Schultern. "Du willst noch nicht nach Hause, oder? Du kannst auch gerne bei mir schlafen. Ein paar Klamotten von dir sind ja mit der Zeit schon bei mir gelandet", stellte er schmunzelnd fest und ich nickte. "Das klingt gut, so machen wir's."

Ich erwachte von einem lauten Schrei, den ich innerhalb weniger Sekunden mir selbst zuordnete. Keuchend setzte ich mich auf und schnappte nach Luft. Mit einem Ruck wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen und Niklas stand in T-Shirt, Shorts und mit verwuschelten Haaren vor mir. Besorgt sah er mich an. "Was ist los? Wieso hast du geschrien?" "Ich hab nur schlecht geträumt, keine Sorge. Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe." "Hey, das muss es nicht", versicherte der Dunkelhaarige mir mit sanfter Stimme und betrat das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich und setzte sich neben mich auf die Sofakante. Das schwache Licht der Laterne vor dem Fenster erhellte sein Gesicht ein wenig und ich musterte die Züge, die mir in den letzten Monaten so vertraut geworden waren. "Hab ich mich eigentlich schonmal bei dir bedankt?", fragte ich leise. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber Niklas hatte mich trotzdem verstanden. "Wofür?" "Für alles. Dafür, dass du immer für mich da bist." "Das ist selbstverständlich." Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ist es nicht. An Silvester waren wir Fremde und jetzt hab ich das Gefühl, du bist die einzige Person, die da ist. Sven und Lars sind mit ihrem Job und ihren vielen Verletzungen beschäftigt, Laura braucht all ihre Zeit für Lennard, Nele ist wegen ihrer Arbeit für mehrere Monate im Ausland und Julian- Julian ist nicht mehr Julian." Ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange rollte und auch Niklas bemerkte sie. Sanft wischte er sie mir weg und ließ seine angenehm warme Hand anschließend auf meiner Wange liegen. Mein Kopf wusste, dass wir uns viel zu nah waren, aber mein Herz pochte wie wild in meiner Brust, während mein Blick zwischen Niklas' Augen und seinen Lippen hin- und herwanderte. Mein Verstand schien auszusetzen und ich war kurz davor, mich weiter nach vorne zu beugen, als der Dunkelhaarige die Notbremse zog. "Ich sollte wieder in mein Bett gehen." Ich nickte und wich sofort ein kleines Stück zurück. "Natürlich", murmelte ich verlegen und legte mich wieder hin. Niklas richtete nochmal meine Bettdecke, dann stand er auf, wünschte mir eine gute Nacht und verließ das Zimmer. Ich blieb mit meinem wild klopfenden Herzen und erhitzten Wangen zurück während ich mich fragte, ob ich eben tatsächlich kurz davor gewesen war, Julian zu betrügen.

Plötzlich zwei Verehrer?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt