Die schwarzen Haare des etwa 16-jährigen Mädchens wehten im eiskalten Dezemberwind und ich sah, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ich wusste nicht, ob es der Kälte geschuldet war oder der Tatsache, dass sie auf dem Geländer der Brücke stand. Noch hielt sie sich am Laternenmast neben sich fest, aber ich war mir sicher, dass sie vorhatte sich umzubringen. Mit klammen Fingern zog ich mein Handy aus der Hosentasche und rief die Rettung, dann atmete ich tief durch und näherte mich vorsichtig dem Brückengeländer. "Hey du. Bitte erschreck dich nicht." Ich bemühte mich, meine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl mir das Herz bis zum Hals pochte. Das Mädchen drehte ihren Kopf in meine Richtung und sah mich panisch an. "Halt! Keinen Schritt näher oder ich springe!" "Okay, okay, ich bleibe hier stehen. Wie heißt du?" "Wieso interessiert Sie das?" "Du kannst mich ruhig duzen. Ich glaube, ich bin nicht viel älter als du. Und dein Name interessiert mich, weil ich immer gerne weiß, mit wem ich mich gerade unterhalte." "Ich heiße Ronja." "Wow, das ist ein wunderschöner Name. Ich heiße Emily. Wieso stehst du auf dem Geländer?" "Wieso wohl?" "Keine Ahnung. Vielleicht genießt du die Aussicht." "Die Aussicht zu sterben, ja, die genieße ich." "Wieso willst du sterben?", erkundigte ich mich und nutzte es aus, dass Ronja kurz in die Ferne sah. Vorsichtig und mit winzigen Schritten näherte ich mich ihr, in der Hoffnung, dass sie es nicht bemerkte. "Weil alles scheiße und sinnlos ist. Es gibt nichts, wofür es sich noch zu leben lohnt." "Ist etwas bestimmtes passiert, was dich dazu bringt, so zu denken?", fragte ich mit sanfter Stimme und sah, wie Ronja einige Tränen über die Wangen liefen. "Meine Mutter ist gestorben. Jetzt hab ich niemanden mehr." "Was ist mit deinem Vater?" "Der ist abgehauen, bevor ich überhaupt geboren wurde. Der Arsch kann mir echt gestohlen bleiben, falls er sich jemals trauen sollte, aufzutauchen. Ohne ihn kann ich gut leben, aber nicht ohne meine Mum." Sie schluchzte leise und ich spürte, wie mir ganz kalt ums Herz wurde. "Das glaubst du mir jetzt vielleicht nicht, aber ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Mama ist Mitte letzten Jahres gestorben und mein Vater schon einige Jahre zuvor. Ich stand da und war ganz plötzlich und unvorbereitet alleine. Und ich dachte mir bloß: Was ist das denn für eine Scheiße? Kann es überhaupt noch schlimmer kommen? Und was denkst du, was passiert ist? Es kam noch schlimmer. Meine Mutter hatte mir ein paar Wochen zuvor einen Brief geschrieben, den sie mir geben wollte, in dem stand, dass sie gar nicht meine leibliche Mutter ist. Ich bin durch eine Affäre meines Vaters entstanden und meine Mama hat mich dann adoptiert." "Das klingt echt scheiße", stellte Ronja fest und ich nickte. "Ja, das war es. Ich war total überfordert mit der ganzen Situation und ich hab sogar kurz darüber nachgedacht, mich umzubringen. Das klang nach der einfachsten und besten Lösung. Ich wäre wieder bei meiner Mutter gewesen und hätte mich nicht um den Inhalt dieses verdammten Briefes kümmern müssen." "Du kannst also wirklich verstehen, wie ich mich fühle", stellte Ronja fest und ich nickte erneut, wobei ich einen weiteren Schritt auf sie zu machte. "Ja, kann ich. Und bitte glaub mir, Selbstmord ist nicht die Lösung. Ich bin mir sicher, dass es mindestens einen Menschen gibt, dem du wichtig bist und der unglaublich traurig wäre, wenn du dir das Leben nimmst. Das hier ist noch nicht das Ende deiner Geschichte, es ist nur das Ende eines Kapitels. Wenn du jetzt durchhältst, dann kannst du die nächste Seite aufschlagen und ein neues Kapitel beginnen." "Bei dir klingt das so einfach." "Ich weiß und ich weiß auch, dass es bei weitem nicht so einfach ist. Aber bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass du es schaffen kannst! Willst du wissen, wie mein neues Kapitel begonnen hat?" Ronja nickte schwach und ich schluckte. "Ich bin zu meiner leiblichen Mutter gefahren und hab gesehen, dass sie glücklich verheiratet ist und zwei Söhne hat. Ich war so verletzt und hab mich so ausgeschlossen gefühlt, aber meine Brüder waren der Wahnsinn. Sie haben mich direkt wie ihre Schwester behandelt und heute kann ich mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Ich weiß, dass du dir jetzt denken wirst, dass dir sowas nicht passieren wird, aber das muss es auch nicht. Du brauchst keine plötzlich auftauchenden Familienmitglieder, um über den Tod deiner Mutter hinwegzukommen. Du brauchst nur den Willen. Du musst wieder lernen, leben zu wollen. Wenn du jetzt von diesem Geländer runtersteigst, dann geb ich dir meine Nummer und wir bleiben in Kontakt und wenn du das Gefühl hast, dass der Wille schwächer wird, dann kannst du mich jederzeit anrufen und dann finden wir einen Weg, wie du das nächste Kapitel beginnen kannst. Ich verspreche dir nicht, dass es einfach wird, aber ich verspreche dir, dass du dabei nicht allein sein musst. Bitte Ronja, bitte komm von diesem Geländer runter." Mit flehendem Blick streckte ich der Schwarzhaarigen meine Hand hin und ich sah, wie in ihrem Inneren ein Kampf stattfand. Und dann, als ich schon befürchtete, sie würde jetzt erst recht springen, griff sie nach meiner Hand und sprang auf meine Seite des Geländers. Erleichtert zog ich sie in meine Arme und ließ sie nicht mehr los, bis ich hinter mir Sirenen hörte. Dann ließ ich Ronja los und sah in ihr verheultes Gesicht. "Du hast dich richtig entschieden", versicherte ich ihr und sie nickte schwach, dann zog ich sie einfach wieder in meine Arme. Hinter uns knallten Türen, dann erklangen Schritte und zwei Sanitäter übernahmen Ronja. Ich nahm schnell mein Portemonnaie aus der Jackentasche und zog eine Visitenkarte heraus, die ich der Schwarzhaarigen gab. "Da stehen meine Handynummer und die Mailadresse drauf. Vielleicht ist dir ja auch mehr nach schreiben, als nach reden, das ist natürlich auch okay. Aber bitte versprich mir, dass du dich wirklich bei mir melden wirst." "Versprochen." Ich nickte Ronja nochmal zu, dann wollte ich zu meinem Auto laufen, als einer der Feuerwehrmänner mich aufhielt. "Wie haben Sie es geschafft, dass das Mädchen nicht springt?" Ich warf kurz einen Blick über die Schulter und musterte Ronja einen kurzen Moment, dann seufzte ich leise. "Ich hab sie verstanden. Ihre Mutter ist gestorben, sie fühlt sich allein und von allen verlassen. Als meine Mutter letztes Jahre gestorben ist, ging es mir genauso." "Das war eine großartige Leistung von Ihnen." "Danke, aber das war selbstverständlich." Ich verabschiedete mich von dem Feuerwehrmann und lief zu meinem Auto, wo ich erstmal kurz die Augen schloss, um mich zu sammeln. Das Zittern meiner Finger, das ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte, wurde langsam schwächer und erst jetzt fiel mir wieder ein, wieso ich diesen Umweg eigentlich genommen hatte. Ich wollte doch schnell bei Julian sein! Hektisch zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und sah, dass mein Freund mehrfach versucht hatte, mich anzurufen. Schnell rief ich ihn zurück und wurde mit einem genervten "Na endlich!" begrüßt, "Wo bleibst du denn? Ich hab in fünf Minuten den Termin beim Doc! Also wo bist du?" "Sorry, aber ich musste noch-" "Ist mir egal, was dich aufgehalten hat. Wie lange brauchst du, bis du zu Hause bist?" Ich schluckte. "Eine Viertelstunde denk ich." "Dann nehme ich mir ein Taxi. Und nächstes Mal sagst du mir früher Bescheid, damit ich nicht wie der letzte Depp 10.000 Mal versuche, dich anzurufen!" Mit diesen Worten legte er auf und ich starrte fassungslos auf mein Handy. War das gerade wirklich passiert? Hatte er tatsächlich mit diesen Worten aufgelegt? Wut stieg in mir hoch und Verständnislosigkeit machte sich in mir breit. Seine Verletzung gab ihm noch lange nicht das Recht, mich so zu behandeln!
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Plötzlich zwei Verehrer?
FanfictionFortsetzung von Plötzlich zwei Brüder? Seit fast einem Jahr sind Emily und Julian zusammen und scheinen glücklich zu sein. Doch der Schein trügt, denn immer öfter geraten die beiden in Streit. Emily ist zunächst überzeugt, ihre Beziehung noch retten...