𝘧𝘰𝘶𝘳.

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Im Park war es ein wenig kühl, die Herbstluft war frisch.
Ein bisschen blinzelte die Sonne durch die schon welk werdenden Blätter der Bäume, doch man spürte, dass die kalte Jahreszeit bevor stand.
Ich war froh, über meinen Pullover noch die Jeansjacke gezogen zu haben.
In der Ferne sah ich eine Gruppe Mädchen auf einer der weitläufigen Grasflächen im Park zu irgendeinem Kpop-Song eine Choreo üben.
Sie sprangen auf und ab, ihre Haare wippten hin und her und immer, wenn eine von ihnen einen Fehler machte oder den nächsten Schritt verpasste, brachen sie in Gekicher aus.
Sie sahen wirklich aus, als hätten sie Spaß beim Tanzen.
Leise seufzte ich.
Wie gerne ich das auch mal wieder tun würde... durch die Luft springen, meine unsichtbaren Flügel ausbreiten und in meiner Vorstellung hoch in den Himmel tanzen.
Ich spürte, wie die Sehnsucht und das schwere, kalte Gefühl der Trauer sich anschlich, und zwang mich schnell an etwas anderes zu denken.
Ich wollte den Moment mit meinem Bruder genießen, heulen konnte ich auch Zuhause.

Schweigend ging Jeongguk neben mir her, seit wir unser Haus verlassen hatten, war kein Wort zwischen uns gefallen.
Normalerweise war Jeongguk nicht mundfaul und plapperte einfach drauf los, doch heute schien er seltsam nachdenklich.
Ich wollte etwas sagen, um die Stille zwischen uns zu brechen, aber mir fiel nichts ein.
In diesem Moment begann Gguk zu sprechen.
"Yoongi, jetzt mal ehrlich. Wieso wolltest du raus?"

Natürlich wollte er das wissen. Es lag auf der Hand, denn schließlich hatte ich schon echt lange nicht mehr freiwillig einen Fuß vor die Tür gesetzt.
Und... Ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich reden konnte.
Ich musste mir einfach mal einen Teil meiner Sorgen von der Seele sprechen, mich ausheulen.
Und wer wäre dafür besser geeignet als Jeongguk?
Mit meinen alten Kumpels hatte ich mittlerweile so wenig zu tun, dass ich ihnen auf dieser Gefühlsebene nichts mehr anvertrauen konnte.
Ich hätte mich von ihnen distanziert, weil ich ihr Mitleid nicht ahnen wollte, ihre beklommenen Blicke und die im Raum stehende Bedacht, nichts zu sagen, was mich verletzen könnte.
Mein jüngerer Bruder allerdings war ein Fels in der Brandung für mich, er war einfach ein Engel.
Und ich vertraute ihm, niemals würde er mich für etwas verpetzen, meine Gehimnisse weiter erzählen oder mich hintergehen.
Vielleicht sollte ich mich ihm einfach öffnen?

"Ich... Darf ich dir etwas erzählen?", begann ich zögerlich zu sprechen.
Meine Stimme zitterte ein wenig, man konnte die Unsicherheit deutlich heraushören.
Ich wagte einen Blick in das Gesicht meines jüngeren Bruders, der mich liebevoll ansah.
Er schien fast schon gerührt.

"Klar Yoongi, natürlich. Was bedrückt dich?"
Sein Blick, wie er erwartungsvoll und aufrichtig in meine Augen sah.
Wie seine Hand sich vorsichtig auf meine Schulter legte und sanft mit den Fingern darüber strich.
In diesem Moment spürte ich das erste Mal seit langem die innige Verbundenheit, die ich mit meinem Bruder teilte.
Ich vertraute ihm, ich hatte ihn schrecklich lieb.
Und er liebte mich auch, egal wie ich aussah, er war mein Bruder.

Vorsichtig lächelte ich zurück und atmete tief durch, vergrub meine schon etwas kühlen Finger noch im rauen Stoff meiner Jacke.
Dann begann ich zu erzählen, erst langsam und zögerlich, doch nach einigen Sätzen wurde ich immer sicherer, sprach flüssiger und mit mehr Details.
Jeongguk ging langsam neben mir her, hörte interessiert und neugierig zu und fragte ab und an nach.
Ich erzählte, wie Hoseok mich das erste Mal angeschrieben hatte, dass ich ihn von Anfang an gemocht hatte und dass er direkt nach dem Unfall der einzige war, der mir ab und zu ein Lächeln mit seinen Worten stohl.

Ich erzählte, dass ich ein schrecklich schlechtes Gewissen hatte, weil ich Hobi meine Lähmung verschwiegen hatte, dass ich Angst hatte, dass er mich nicht mehr mögen würde, sich von mir abwenden würde.
Dass ich mir schreckliche Sorgen machte, dass es zwischen uns genauso komisch werden würde wie mit meinen alten Freunden, weil er nicht mit meinen Problemen umgehen konnte.
Und dass er mich schließlich nach einem Treffen gefragt hatte und ich vollkommen unüberlegt und voreilig, in einer spontanen Welle der Euphorie zugesagt hatte.

Ich erzählte und erzählte, und Jeongguk hörte einfach zu.
Wir durchquerten einmal den ganzen Park, drehten um und gingen genau demselben Weg wieder zurück.
Es fühlte sich gut an. Die Sorgen über Hoseok, die sich in dem Moment, in dem ich sie aussprach, ein klitzekleines bisschen leichter anfühlten.
Die frische Herbstluft, die mit ihrem kühlen Hauch zarte rosafarbene Schleier auf unsere Wangen zauberte.

Das Gefühl des Vertrauens, der Verbundenheit gegenüber Jeongguk.
All das hatte mir gefehlt, und ich war so unglaublich erleichtert in diesem Moment, mich ihm geöffnet zu haben.
Auch wenn meine Sorgen ohne Zweifel wieder zurückkehren würden und nicht aus der Welt waren, hatte ich das erste mal seit langem das Gefühl, einen Schritt aus meiner dunklen Ecke gemacht zu haben.

Als ich fertig war mit meiner Geschichte, hob ich den Kopf und blickte meinen Bruder erwartungsvoll an.
Mich interessierte brennend, was er mir nun riet zu tun, oder was er insgesamt hielt von der ganzen Sache, von Hoseok.

Nachdenklich erwiderte Jeongguk meinen Blick ein paar Augenblicke, bevor er begann zu sprechen.

"Also, du sagst dass er dich von Anfang an besser hat fühlen lassen. Dass er dich tröstet, dich motiviert, mit Nachrichten happy macht und manchmal das einzige ist, was dich hält. Und dass er selbst nach einem harten Trainingstag abends extra noch online kommt, um dir von seinem Tag zu erzählen und dir zuzuhören. Kurz, er ist dir sehr wichtig geworden."

So, wie Jeongguk es ausdrückte, klang das alles noch viel kitschiger, aber es stimmte.
Verlegen nickte ich.

"Und da fragst du noch? Natürlich wird er dich mögen! Yoongi, es ist doch ganz egal, ob du im Rollstuhl sitzt oder nicht! Das, worauf es ankommt ist das Innere. Und dein Inneres ist aus Gold."

Oh. Das hatte ich nicht erwartet. War mein Charakter aus Gold? Eher nicht. Schließlich machte ich mich oft genug selbst runter und versank Tag für Tag im Selbstmitleid.

"Meinst du?", fragte ich skeptisch.
Ich konnte ihm irgendwie nicht glauben. Natürlich zählte es, dass ich hässlich war und dass ich behindert war.

Energisch stellte sich Jeongguk vor meinen Rollstuhl und ging in die Hocke.
Erschrocken hielt ich an, um ihn nicht über den Haufen zu fahren, und starrte ihn verwirrt an.

"Verdammt, Yoongi, hör mir doch zu! Dein Hoseok scheint echt ein toller Mensch zu sein und so wie er dich behandelt, bin ich mir ziemlich sicher, dass du ihm genauso wichtig bist wie er dir. Und er hat sich doch so über deine Zusage gefreut, oder?", mit Nachdruck griff er nach meinen Händen und legte sie in seine, "willst du ihn wirklich so enttäuschen? Bitte, Yoongi. Denk nochmal noch und gib ihm die Chance! Du willst das doch auch..."

Gegen Ende klang er fast schon flehend, als würde er mich anbetteln.
Mit seinen großen, braunen Augen schaute mein kleiner Bruder bittend an.

Vielleicht hatte er ja Recht...?

𝙩𝙧𝙪𝙚 𝙗𝙚𝙖𝙪𝙩𝙮 | 𝙨𝙤𝙥𝙚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt