𝘵𝘩𝘪𝘳𝘵𝘺-𝘵𝘩𝘳𝘦𝘦

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Ich hatte keinen Plan, was gerade abging, aber ich wagte es nicht, mich zu bewegen oder die Stille zu brechen.
Wie erstarrt beobachtete ich mein Gegenüber, wie er beinahe fasziniert meine Lippen betrachtete, während mein Herz so laut klopfte, dass ich befürchtete, er könnte es hören.

Mir war erschreckend genau bewusst, dass Hoseok sich genauso verhielt, wie die Protagonisten in den Filmen ein paar Sekunden bevor sie die Heldin küssten.
Ich wusste ganz genau, dass Hoseok gerade meine Lippen anschaute, weil er einen unterbewussten Drang verspürte, sie mit seinen zu verbinden. Und doch kamen diese Erkenntnisse nicht mal ansatzweise da an, wo sie Reaktionen auslösen würden.

Mein Gehirn schrie mich an, dass gerade alles danach aussah, als würde Hoseok doch irgendwo Gefühle für mich haben und mich küssen wollen, aber mein Geist war irgendwie nicht zurechnungsfähig.

Also tat ich einfach nichts anderes, als dazuhocken und zurückzustarren. Tolle Leistung, aber im Moment war ich zu nichts anderem fähig.
Beinahe automatisch glitt auch mein Blick an seinem Gesicht herab, wie magnetisch angezogen von seinen Lippen.
Sie sahen ziemlich weich aus, gepflegt, samtig und plump.

Wie sie sich wohl anfühlten?
Wie würde es sich anfühlen, wenn wir uns küssen würden?
Ein Schauder durchfuhr meinen ganzen Körper.
Die Anziehung zwischen uns war so spürbar, zum Greifen nah.

Sollte ich... mich näher zu ihm lehnen? Zu gern würde ich die letzte Barriere überwinden und ihn hier und jetzt küssen.
Um uns herum waren im Moment keine Leute, und gäbe es einen schöneren Ort für einen ersten Kuss als unter einer mächtigen, prachtvoll leuchtenden Eiche?

Kurz überlegte ich. Ich würde gerne, aber ich konnte nicht. Wenn ich jetzt alle Vorsicht über Bord warf, könnte ich genauso gut unsere Freundschaft zerstören.
Nur weil Hoseok jetzt gerade mit seinen Emotionen rang, hieß das nicht gleich, dass er wirklich Gefühle für mich hatte... wenn ich jetzt als erster einen Schritt machte, konnte ich  ihn auch abschrecken.
Auf einmal hatte ich nämlich das starke Gefühl, dass Hoseok genauso unsicher war wie ich.
Ich meinte, spüren zu können, wie er mit sich kämpfte.

Und ich wollte ihn nicht zu etwas mitreißen, nur weil ich gerade danach verlangte.
Wenn er wirklich wollte, sollte er dem ersten Schritt machen... viel zu groß war meine Angst, etwas kaputt zu machen.

Einige Sekunden später allerdings war dieser magische, fast unwirkliche Moment abrupt vorbei, Hoseok nahm ruckartig seinen Blick von meinen Lippen, als wäre er so eben aus einem Tagtraum aufgewacht.
Seine Mimik verriet mir, dass er ebenso verwirrt war wie ich selbst.

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, hatte er sich blitzschnell aufgerappelt. Seine Wangen wurden knallrot, er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

"Ich... ähm", stotterte er, so unsicher, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, "Ich glaube, wir sollten heim gehen."

Heim? Jetzt schon?
Ich begriff, dass Hoseok ziemlich überfordert mit der Situation sein musste.

Hastig nickte ich, während auch mir spürbar das Blut ins Gesicht schoss.
Schweigend suchten wir unsere Sachen auf der Bank zusammen.
Auf einmal lastete die Stille auf mir, der Moment eben lag wie eine unsichtbare Trennwand zwischen uns in der Luft.

Den Weg nach Hause sprachen wir auch nichts, jeder dachte selbst nach. Ich hatte das Gefühl, wir beide hatten Angst, etwas falsches zu sagen.
Es herrschte eine Stimmung, die ich noch nie zwischen uns gefühlt hatte, und es machte mich traurig, dass sie jetzt so greifbar zwischen uns stand.

Genau das war das Problem.
Wir waren kurz davor gewesen uns zu küssen, und jetzt war alles komisch.
Ich hatte das Gefühl, das Hobi einfach überfordert gewesen war und sich jetzt nicht mehr traute, so unbeschwert wie sonst zu sein.
Er war auf einmal ganz still, blickte mir kaum in die Augen.

Trotzdem verstand ich es nicht. Er war der jenige gewesen, von dem die Anziehung ausging.
Er hatte uns erst in diese Situation gebracht, ich hatte sie lediglich nicht abgewendet.
Und doch war ich mir so sicher gewesen, dass er mich wirklich hatte küssen wollen.
So sah man doch nicht jemanden an, für den man nichts übrig hatte, oder?

Also war Hobi vielleicht doch an Jungen interessiert?
Und... ganz vielleicht sogar an mir?
Bei diesem Gedanken fing mein Herz schon wieder an, aufgeregt zu pochen.
Schnell spielte ich den Moment vorhin wieder vor meinem Inneren Auge ab.
Wie er so unglaublich fasziniert meine Lippen angestarrt hatte, eine gefühlte Ewigkeit lang.

Wenn ich doch nur in seinen Kopf schauen könnte... ein leises Seufzen entwich mir.
Die U-Bahn schaukelte leicht, Hoseoks Arm stoß fast unmerkbar leicht an meinen Ellenbogen.
Ich spürte, wie er mir einen Blick von der Seite zuwarf, tat aber so, als würde ich es nicht merken.

Was sollte ich denn jetzt machen? Auf irgendeine Weise mussten wir das mit uns klären, ich hielt diese Stimmung nicht aus. Ich wünschte mir die lockere, unbeschwerte Zeit von vorhin zurück. Vielleicht war es einfach am Besten, das Ganze als großes Missverständnis darzustellen... meine Gefühle gestehen würde ich auf jeden Fall schon mal nicht. So wie er vorhin zurückgeschreckt war, hatte er mir ein bisschen das Gefühl gegeben, dass er impulsiv gehandelt hatte und ihm dann klar geworden war, wer ich war.

Wenn ich da dann noch mit einem Geständnis dazwischengrätschen würde, konnte ich unsere Freundschaft gleich an den Nagel hängen. Ich konnte ihn einfach nicht verlieren, und das hieß, dass ich das Ganze schnell klären musste und ihn nicht noch mehr verschrecken durfte. 

Zum Glück brauchte ich heute auch keine Hilfe beim Ausstieg aus der Bahn, da wir aus der anderen Richtung an die Station fuhren, kamen wir am gegenüberliegenden Bahnsteig an, bei dem es keinen Höhenunterschied und auch keine besonders große Lücke gab. 

Irgendwie süß war aber trotzdem, dass nicht mal zum Thema gekommen war, ob Hoseok mich heimbegleiten sollte oder nicht. Es war irgendwie selbstverständlich gewesen, keiner von uns hatte wohl näher darüber nachgedacht.

Zurück an der kühlen, aber frischen Luft überlegte ich, wie ich am besten reinen Tisch machen konnte. Wie fing man am besten mit sowas an? Sollte ich einfach verlangen, dass wir beide die Situation vergessen sollten? Oder war das zu harsch? Eigentlich wollte ich es auch gar nicht vergessen, bis auf das schlagartige Ende war es ziemlich toll gewesen. 

Aber Hoseok wollte es vielleicht verdrängen... war das Ganze für ihn nur ein peinlicher Fehler gewesen? Ein Fehltritt, in dem er kurz die Kontrolle über sich verloren hatte? Bloß, hieß das nicht auch, dass dann irgendwo Gefühle dahinterstecken mussten? Wenn er absolut nichts für mich empfinden würde, hätte er ja nicht einmal einen Grund, sich kontrollieren zu müssen.

Überrascht fiel mir in diesem Moment auf, dass ich unterbewusst viel selbstsicherer über mich selbst dachte. Seit wann verschenkte ich überhaupt einen Gedanken, es wert zu sein, Gefühle für mich zu haben? Wow. Ob das an Hoseok lag? Kurz überlegte ich.

Ja, es lag an ihm. Unglaublich... er hatte mich in der Zeit, seit wir befreundet waren und insbesondere seit wir uns regelmäßig trafen, stärker gemacht. Ohne dass ich es wirklich bemerkte... aber jetzt wo ich mal so richtig drüber nachdachte, war es total offensichtlich.

Ich heulte viel seltener, und auch die lauten Selbstbeleidigungen in meinem Kopf verstummten immer mehr, wenn er in meiner Nähe war. Allein die Tatsache, dass ich vorhin ernsthafte Hoffnungen gehegt hatte, er würde mich zurück mögen. Vor ein paar Wochen noch wäre das nicht mal in meinem Kopf möglich gewesen, der Selbsthass und meine Komplexe über mein Äußeres hätten mir nicht mal eine Chance gegeben, so zu denken. 

Fasziniert wollte ich zu Hoseok, der immer noch schweigend neben mir herging aufschauen. Sofort trafen sich unsere Blicke, Hoseok schien mich schon eine ganze Weile beobachtet zu haben, ohne dass ich es merkte. 

Gleich begann mein Herz aufgeregt zu klopfen, während ich schnell wieder wegschauen wollte, überfordert mit dem unerwarteten, aber seltsam intensiven Blickkontakt. Da allerdings spürte ich Hobis Hand an meiner Schulter, er blieb ruckartig stehen. Ungewollt warf ich erst einen Blick auf seine Hand, die prompt ein warmes Kribbeln an der Stelle, an der sie lag, auslöste, bevor ich ihn intuitiv wieder ansah. 

Seine Augen waren ungewohnt dunkel, strahlten keine gute Laune aus, wie gewohnt. Stattdessen wirkte er betrübt, beinahe schon unsicher und besorgt.

Leise räusperte er sich, bevor er endlich wieder die Stille brach. 

"Yoongi..."

𝙩𝙧𝙪𝙚 𝙗𝙚𝙖𝙪𝙩𝙮 | 𝙨𝙤𝙥𝙚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt