Am nächsten Tag wollte sich Jonas in seinem Team etwas umhören. Vielleicht wussten die Jungs ja etwas über Kim, Samira oder Sven was wir nicht wussten. Ich hatte zwar keine Ahnung wie er das Gespräch zufällig auf so ein Thema lenken wollte, aber ich war zuversichtlich. Wenn einer was rausbekommen würde, wäre das Jonas. Er wollte mich anrufen, wenn er etwas herausgefunden hatte. Bis dahin musste ich die Zeit aber auch noch irgendwie totschlagen. Ich lief nach unten Richtung Küche um mir etwas zum Essen zu machen.
Doch als ich am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei lief hielt ich inne. Da saß sie. Heulend vor dem Bett, auf dem Boden zusammen gekauert und den Kopf in den Händen vergraben. Die Bluse und ihre schwarze Leggins waren mit Flecken übersäht und ihre Haare standen in alle Richtungen ab. Man musste kein Hellseher sein, um zu erahnen was hier vor wenigen Minuten geschehen war. Es sah so aus wie immer, wie immer, wenn mein Vater zu viel getrunken hatte und seine Wut freien Lauf gelassen hatte. Meine Vermutung wurde bestätigt als ich das Blut durch ihre blassen, knochigen Finger rinnen sah, die sich noch immer vor ihrem schluchzenden Gesicht befanden. Ich stand im Türrahmen und sah sie dort sitzen, sie sah aus wie ein Häufchen Elend. Es zerbrach mir das Herz sie so zu sehen. Ich wollte ihr helfen doch etwas hielt mich zurück.
Ich überwand mich schließlich doch und bewegte mich vorsichtig auf sie zu und setzte mich neben sie. Als ich meinen Arm um sie legte schaute sie mich erst verwirrt, und dann mit einem liebevollen Blick an. Ihre Augen waren rot und leicht angeschwollen. Wir schauten uns nur an, keiner sprach ein Wort, keiner stellte eine Frage. Was sollte ich auch fragen, „Ist alles okay mit dir?" „Geht es dir gut?" „Was ist passiert?" die Fragen waren unnötig und die Antwort auf jede einzelne Frage wusste ich schon längst. Ich hörte wir unsere Haustür ins Schloss fiel. Mein Vater war da! Der Moment vor dem ich mich am meisten fürchte, denn keiner weiß was jetzt passieren würde. „Geh in dein Zimmer! Beeil dich. Los!", ihre Stimme war eindringlich und warnend. Ich tat was sie sagt und verschwand so schnell ich konnte, bevor ich den Raum verließ schenkte ich ihr noch mal einen besorgten Blick. Ihre weiße Bluse war jetzt mit dem Blut ihrer Hände beschmiert und sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. In meinem Zimmer angekommen, schloss ich die Tür. Ich hörte die schweren und langsamen Schritte meines Vaters als er die Treppe hoch wankte. Ich konnte meinen Herzschlag so laut hören wie noch nie zuvor. Angst erfüllt wartete ich darauf was als nächstes passieren würde. Ich traute mich kaum zu atmen, weil ich Angst hatte mich zu verraten. Er könnte mitbekommen, dass ich lausche, dass ich bei meiner Mutter war oder dass ich wissen wollte was er nun tut. Die Schritte vor meiner Tür wurden lauter und dann knarzte der Griff meiner Zimmertür. Mein Herz blieb stehen und ich wisch ein paar Schritte, zum Schutz, zurück. Meine Zimmertür öffnete sich und mein Vater stand vor mir. Ich schaute ihn an und setzte ein falsches Lächeln auf. Er musterte mich und schaute sich in meinem Zimmer um, aber er sprach kein Wort. Er schaute mich wieder an, nickte kurz und verschwand auch wieder. Sofort kehrte Still ein, nur mein Herzschlag verstummte nicht, sondern wurde sogar noch schneller und lauter als zuvor. Langsam atmete ich aus und löste mich aus meiner verkrampften Haltung. Die Treppenstufen knarrten wieder, Stufe für Stufe bis er unten angekommen war. Man konnte hören wie die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. So schnell wie er gekommen war, verschwand er auch wieder und niemand wusste wohin er ging und was er nun tat. Ich verließ mein Zimmer um wieder nach meiner Mutter zu schauen. Sie kam gerade aus dem Schlafzimmer, bog um die Ecke und ging in Richtung des Badezimmers. Als ob nichts gewesen wäre, zock sie ihre Klamotten aus, schmiss diese in den Wäschekorb, holte sich ihren Morgenmantel, wusch sich das Gesicht und klebte über die Wunde an der Augenbraue ein Pflaster. Sie drehte sich um und lief in die Küche, als sie an mir vorbei ging drückte sie mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Mach dir keine Sorgen mein Schatz, es wir alles wieder gut."
Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Doch trotzdem brachte sie diese Worte immer so hoffnungsvoll hervor, nur um mir Mut zu machen. Sie wusste, dass ich kein kleines Mädchen mehr war, aber trotzdem wollte sie die Realität von mir fernhalten. Wahrscheinlich auch um nicht selber damit konfrontiert zu werden. Sie wollte jedes Unglück und alles Schlechte von uns verhalten und uns beschützen. Ich war mir sogar recht sicher, dass wenn es mal soweit wäre, sie alles tun würde um mich zu beschützen. Sie war nicht schwach, sie war eigentlich eine ziemlich taffe Frau. Doch gegen meinen Vater tat sie nichts. Warum versteh ich nicht. Ich lief ihr hinterher und folgte ihr die Treppen nach unten. Ich stellte mich in den Türrahmen und schaute ihr zu wie sie mit ihrem Alltag weiter machte als wäre nichts gewesen. Sie stand in der Küche und holte Töpfe heraus, schnitt Gemüse, kochte Nudeln und Soße. „Willst du auch etwas essen?" Ich antwortete ihr nicht, spürte aber wie die Wut in mir hochstieg. „Nein will ich nicht!", schrie ich sie plötzlich an. Sie schaute mich verwundert an: „Was ist denn los mein..." „Tu doch nicht immer so als wäre nichts passiert! Warum wärst du dich nicht? Warum machst du nichts?", mir blieb vor Schreien fast die Luft weg aber ich war noch nicht fertig, „Tu nicht immer so als wäre alles in Ordnung und als würde sich bald was ändern! Es wird sich nichts ändern! Es hat sich in zehn Jahren noch nichts geändert und es wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nichts ändern!" Die Tränen stiegen in mir hoch und ich versuchte krampfhaft sie zu unterdrücken. Ich hasste diese Eigenschaft an mir, dass mir bei Wut Tränen in die Augen stiegen und sich ein Kloss in meinem Hals bildete. Meine Mutter legte ihre Kochutensilien weg und kam auf mich zu: „Das ist doch nur wegen dem ganzen Stress. Dein Vater ist doch sonst ein lieber Mensch und tut wirklich alles für uns." Sie griff meine Hände, doch ich schüttelte sie ab: „Wenn er alles für uns tuen würde, würde er nicht trinken und dich nicht schlagen!" Ich drehte mich um und rannte die Treppe wieder hoch in mein Zimmer. Die Tür flog mit einem lauten Knall zu und ich landete mit einem dumpfen Geräusch auf meinem Bett. Die Tränen flossen mir die Wangen herunter und sammelten sich in meinem Kissen. Ich hasste meinen Vater dafür was er meiner Mutter antat. Dafür, dass wir nie wussten was der nächste Tag für uns bereithielt. Dafür, dass wir jeden Tag Angst haben mussten etwas falsch zu machen.
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Revenge
Mystery / ThrillerDurch eine Wette gedemütigt, verletzt und ausgenutzt. Rächt sich Mara an ihren vier Klassenkameraden. Sie sollen den selben Schmerz erfahren den sie selbst verspürt hatte. Doch was als harmloser Streich begann gerät mehr und mehr außer Kontrolle und...