Aller Anfang ist Schokolade

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An welchem Punkt in unserem Leben beginnen wir, die Welt um uns herum wirklich wahrzunehmen? Es ist ein Rätsel, das niemand so recht zu lösen vermag. Was erleben wir in den ersten sechs Monaten, im Alter von einem Jahr oder gar drei Jahren? Diese Erinnerungen scheinen wie Schatten in der Ferne zu verschwinden, und doch gibt es etwas, das uns an unsere Kindheit bindet: die Erzählungen unserer Eltern, Großeltern und all der Menschen, die uns am nächsten stehen.

Meine eigene Kindheit, so wie sie mir erzählt wurde, bestand aus drei wesentlichen Elementen:

Blödsinn machen,Alec,und Blödsinn machen mit Alec.

Um das Geheimnis um diesen mysteriösen Alec zu lüften, lade ich euch ein, mit mir in die Vergangenheit zu reisen.

2009

„Meins!" hallt der Schrei durch den Raum, ein vertrauter Kampf, der sich immer wieder entfaltet. Der Kampf um das letzte Stück Pizza.

„Nein, du bist kleiner als ich. Also gehört es mir!", erklärt der Junge mir gegenüber mit der Unerschütterlichkeit eines Anwalts.

Darf ich vorstellen: Alec, mein bester Freund, alias Mister Egoist. Mein Nachbar und gleichzeitig die größte Nervensäge in meinem Leben.

Alec hatte immer behauptet, ich wäre kleiner als er. Doch das war eine grobe Fehlinformation. Früher war ich immerhin einen ganzen Daumen größer als er. Für Alec war die Frage von Größe und Alter gleichbedeutend. Wer mit ihm diskutieren wollte, traf auf eine sture Wand, durchzogen von leuchtend grünen Augen. Und auch heute hat sich daran nichts geändert.

„Heey! Du bist gar nicht größer! Mom sagt immer, ich bin größer als du!", erwiderte ich, meine Arme vor der Brust verschränkt.

Alec war bereits dabei, das Stück Pizza in sich hinein zu schlingen. Es ist bekannt, dass er beim Essen immer eine gefühlte Ewigkeit benötigte. „Doch, natürlich! Ich bin schon 11 und du bist nur 8. Also bin ich größer!"

Mit einem tiefen Seufzer und einem überdramatischen Augenrollen gab ich auf. Schließlich, so sagt man, gibt der Klügere nach.

„Beim nächsten Mal möchte ich aber das letzte Stück! Die Pizza deiner Mom ist einfach himmlisch!", fügte ich hinzu, und das war die Wahrheit. Mrs. Sanchez zauberte die beste Pizza der Welt. Ich besuchte sie immer gerne, wenn sie kochte. Der Duft erfüllte das ganze Haus. Einmal durfte ich sogar alleine hinübergehen! Das war ein aufregendes Abenteuer, das ich nie vergessen werde, obwohl unsere Häuser nur ein paar Meter voneinander entfernt lagen.

Natürlich konnte auch meine Mom gut kochen, aber gegen die kulinarischen Fähigkeiten von Alec's Mom war sie chancenlos.

Doch zurück zu Alec und mir. Wie schon erwähnt, sind wir Nachbarn. Seit ich denken kann, ist er Teil meines Lebens. Wir zogen hierher, als ich noch ein Baby war. Laut den Erzählungen meiner Mom begann unsere Freundschaft auf eine amüsante Weise: Ich lag friedlich in meinem Kinderbettchen, gerade einmal sechs Monate alt, während Alec, der damals schon dreieinhalb war, großen Spaß daran hatte, kleine Babys zu ärgern.

Er sah mich an. Ich sah ihn an. Dann sah er seine Hand an – eine schokoladenverschmierte Hand-, die nicht gerade sanft über mein Gesicht strich. Und Baby Meghan brach in einen lauten Heulkrampf aus.

Geboren war die neue Freundschaft !

Von diesem Tag an waren wir unzertrennlich. Zugegeben, anfangs ärgerte Alec mich oft, doch schließlich entwickelte sich aus diesen Streichen eine tiefere Verbindung. Auch wenn er mich weiterhin gerne ärgerte nahm, bestand er darauf, dass nur er das durfte.

„Ist ja gut, beim nächsten Mal bekommt jeder eine eigene Pizza", sagte Mrs. Sanchez, die gerade in die Küche kam. „Wow, wirklich eine eigene, Mom?", fragte Alec mit großen Augen.

„Mhm, aber nur, wenn du brav bist, amigo. Sonst darf Meghan alles alleine essen", gab sie von sich mit einem spielerischen Grinsen.

„Okay, Mom, ich versuch's!", antwortete er, das typische Bild eines frechen 11-Jährigen, der immer für einen Streich zu haben war.

Isabel, Alec's Mom, schüttelte lächelnd den Kopf. „Wo ist deine Mom, Meghan? Soll ich dich rüberbringen?"

„Sie ist kurz zu Grandma gegangen. Und nein, sie wollte danach sowieso rüberkommen" entgegnete ich lächelnd.

 Meistens verbrachten Alec und ich unsere Tage abwechselnd bei einander. Unsere Zeit bestand hauptsächlich aus Schule, Essen und Trinken, und natürlich aus Streichen und nächtlichen heimlichen Ausflügen.

Wir lebten am Rande der Stadt, nicht weit entfernt von einem verlassenen Platz, der von den älteren Jugendlichen in Rose Wood gerne für Autorennen genutzt wurde. 

Ja, richtige Autorennen, wie sie in den Filmen gezeigt werden. Eine Menge Zuschauer, geheime Wetten, heimliche Drogen-Deals und das Mädchen, das ihr Oberteil schwenkt, um den Startschuss zu signalisieren.

Der Platz war nur fünf Minuten zu Fuß von unseren Häusern entfernt, und manchmal hörten wir die Motoren bis hin zu uns. Alec öffnete nachts sein Fenster, nur um die Geräusche der Autos zu hören, und behauptete, dass ihm das beim Schlafen half. Er hatte eine wahnsinnige Vorliebe für Autos.

Unsere Eltern hatten uns striktes Verbot erteilt, uns in die Nähe dieser Rennen zu begeben. Wir hielten uns an die Regel, bis Alec an seinem Geburtstag die Idee hatte, sich heimlich hinauszuschleichen und sich eines dieser Rennen anzusehen.

Ich war anfangs skeptisch. Schließlich war das nicht der beste Ort für ein achtjähriges Mädchen und einen frisch gebackenen elfjährigen Jungen. Doch als Alec mir erklärte, dass es sein Geburtstagswunsch war, konnte mein achtjähriges Ich einfach nicht nein sagen.

Und schließlich macht alles mehr Spaß, wenn es verboten ist, oder?

Second Chance -pausiert-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt