Zurück in die Vergangenheit

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Heute

Spatz, hast du alles?" rief Dad mir von unten an der Treppe zu. Ich sah aus dem großen Fenster im Flur unseres Hauses und versuchte mir die nicht so prickelnde Aussicht einzuprägen. Ein Baum, der halb das Fenster verdeckte, und der Garten der Brooks, unserer Nachbarn. Ihre Kinder planschten gerade im Pool, den Mister Brook heute Morgen aufgeblasen hatte. Schließlich war heute der erste Tag des Sommers, und die Mittagssonne knallte, was das Zeug hielt.

Ich atmete tief ein und aus. „Ja, Dad, hab ich. Ich komme." Als ich unten ankam, sah ich Mom bereits im Auto sitzen. Dad packte gerade die letzten Koffer ein. „Komm, Meg, setz dich ins Auto. Mom ist schon drin, wir haben eine lange Fahrt vor uns." Ich lächelte Dad zu und wandte mich ein letztes Mal zum Haus.

Auf Wiedersehen, South Ville, und hallo, Rose Wood.

Ihr habt richtig gelesen. Unser Ziel der langen Fahrt trägt den Names des kleinen Örtchens Rose Wood. Vor etwa drei Jahren sind wir hierher gezogen, nachdem Mom krank geworden ist. In Rose Wood lief es für Dad nicht mehr so gut, weshalb wir die Kosten für die Behandlung nicht hätten aufbringen können. Kurz darauf bekam er hier in South Ville ein gutes Jobangebot.

Doch leider half das Mom nicht wirklich. Wir konnten die Behandlungskosten zwar aufbringen, aber sie schlug nicht an. Ihr Zustand verschlechterte sich mit den Jahren, sodass Mom nun endgültig beschlossen hatte, ihre verbleibende Zeit in ihrer Heimat Rose Wood zu verbringen. Dad war anfangs komischerweise total dagegen. Sie führten unzählige Streitereien und Diskussionen darüber, bis Mom ihm mitteilte, dass es ihr letzter Wunsch sei, ihre Zeit mit unserer Familie und unseren Freunden zu verbringen und nicht in einem fremden Ort, umgeben von Fremden. Schließlich gab Dad nach.

Was uns nun hierher brachte. Sechs Stunden Fahrt lagen vor uns. Sechs Stunden Fahrt zurück in die Vergangenheit. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte. Ich hatte in Rose Wood so viel zurückgelassen.

Familie. Freunde. Und vor allem mein Herz.

Ich setzte mich ins Auto hinter den Fahrersitz. Dad war noch dabei, die Koffer zu verladen. Mom drehte sich zu mir um. „Bist du bereit, Schatz?" Ich lächelte ihr schwach zu. „Ja, Mom, es ist ja nichts Besonderes. Wir gehen halt einfach wieder nach Hause." Sie sah mich mit diesem Blick an, den nur Mütter draufhaben – den Blick, der sagt: „Ich kann alles in dir lesen, denn du bist mein Kind."

„Schatz, ich weiß doch, dass es dir etwas bedeutet. Schließlich werden wir ja auch wieder im alten Haus wohnen." Scheiße. Ich wusste genau, worauf sie anspielte. Bloß nichts anmerken lassen. „Ja, das ist doch toll!" gab ich mit zu viel gespielter Begeisterung zurück.

„Ich weiß, es war nicht leicht für dich und Al-" Die Autotür ging auf und unterbrach unser Gespräch. Ich war dankbar dafür, denn ich war noch nicht bereit, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Geschweige denn, diesen Namen laut ausgesprochen zu hören.

„So, meine zwei Schönen, auf geht's." Dad sah Mom an. Er lächelte zwar, aber irgendetwas in seinem Blick beunruhigte mich. Er startete den Motor, und so begann unsere Reise zurück in die Vergangenheit.

...

„Spatz, aufwachen. Wir sind da." Mom weckte mich. Ich blinzelte und sah verschlafen aus dem Fenster. Es war bereits beschlagen, also wischte ich es mit meiner Hand sauber. Ein in Schwarz getränkter Himmel blickte mir entgegen. Wie spät war es? Es musste schon mitten in der Nacht sein. „Es ist schon sehr spät. Es ist gleich Mitternacht, Dad hat leider doch etwas länger gebraucht als gedacht", teilte sie mir mit.

Wow, ich habe also die gesamte Fahrt durchgeschlafen. Ich stieg aus und sah Dad bereits die Koffer ausladen und ins Haus bringen. Nun war es soweit. Ich stand vor unserem Haus, mitten in der Einfahrt. Es hatte sich nicht viel verändert.

Es waren die selben Pflastersteine, die zur Haustür führten. Die Fassade sah genauso aus wie früher. Vielleicht nur etwas heruntergekommen, aber nur etwas. Selbst das Klingelschild war nicht erneuert worden.

Das Einzige, was fehlte, waren Moms Blumen im Garten. „Spatz, es ist kalt. Komm rein ins Haus. Dad ist auch schon drinnen." Ich bemerkte gar nicht, dass Dad während ich mir das Haus ansah, schon alle Koffer rausgeholt hatte. Mom verschwand gerade in der Haustür, während ich dazu ansetzte, ihr ins Haus zu folgen und einen Schritt zu tun.

Und sofort hielt ich inne.

Ein Geräusch. Das eines Motors. Eines sehr lauten Motors. Sofort schossen mir tausende Erinnerungen hoch, ebenso die damit verbundenen Gefühle.

Das berauschende Gefühl, einen Motor laut aufheulen zu lassen. Das Gefühl, den Fahrtwind überall zu spüren. Das Adrenalin, weil man nicht weiß, was als Nächstes passiert. Und der Kampfgeist, um jeden Preis gewinnen zu wollen.

Das Gefühl, das ich hatte, wenn ich mit ihm war.

Das Geräusch kam immer näher, und ich drehte mich um.

Um die Ecke kam ein Auto angefahren. Das hörte ich sofort. So eines, wie man es braucht, um ein Rennen fahren zu können. Rennen! Natürlich. Das hatte sich wohl bisher nicht geändert. Es ist bestimmt erst gerade zu Ende gewesen, wenn ich an die späte Uhrzeit dachte.

Ich spürte mein Herzklopfen und befürchtete, dass es nun jeder in der Umgebung hören musste. Die Vermutung, die sich gerade in mir aufkeimte, raubte mir jeden Nerv. Ich spürte nicht einmal mehr die Kälte. Stur sah ich geradeaus, und plötzlich kam das Auto auf mich zu.

Unser SUV bot mir zum Glück etwas Sichtschutz, sonst hätte man mich von hundert Metern Entfernung erkannt. Ich wäre als Stalker abgestempelt worden, so wie ich angewurzelt da stand.

Das Auto verlangsamte sich, je näher es in meine Richtung kam. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Ich stützte mich am Dach unseres Autos ab und sah dabei zu, wie das andere Auto parkte.

In der Einfahrt nebenan.

Meine Augen waren so sehr daran gefesselt, dass ein Erdbeben oder ein anderes natürliches Phänomen eintreten könnte. Nichts hätte mich dazu bringen können, meinen Blick vom Auto und den Schatten des Fahrers abzuwenden. Und plötzlich erloschen die Lichter des Autos, und das Geräusch des laufenden Motors verstummte. Ein Klick war zu hören. Die Tür öffnete sich, und das Geräusch, wenn man auf Kieselsteine trat, war zu hören.

Mit jeder Sekunde, die der Fahrer brauchte, um auszusteigen, stieg mein Puls mehr und mehr an. Meine Hand klammerte sich immer fester um das silberne Metall des Daches.

Der Fahrer stieg seelenruhig aus, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Er ging gemächlich seine Auffahrt entlang Richtung Haustür, ohne mich zu bemerken.

Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung ab, und ich setzte ein zweites Mal an, um mich in Richtung meines Hauses zu bewegen. Meine Vermutung lag, gottseidank, falsch.

Bis er plötzlich stehen blieb.

Second Chance -pausiert-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt