12

107 13 6
                                    

Um von der Tatsache, dass mir sein Verhalten sehr schmeichelte, abzulenken, wechselte ich den Betreff unseres Gespräches. „Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?", mein abrupter Themenwechsel schien ihn ein wenig zu überfordern, da er nach kurzem Überlegen, stammelte: „Meine Eltern sind gute Freunde von Beth und Scott. Sie haben erzählt, dass sie ein Pflegekind bekommen. Und da es hier nicht oft neue Gesichter gibt, war ich mir relativ sicher, du würdest hier sein." Bedächtig nickte ich.

Da es noch immer Mitten in der Nacht war, holte mich meine Müdigkeit langsam ein, sodass ich mich zurücklehne und in mein Kopfkissen kuschelte. Es dauerte nicht lange, bis Noah mir nachmachte. Allerdings rutsche er ein wenig runter, um seinen Kopf in meiner Halsbeuge zu vergraben. Jeden anderen hätte ich dafür unverzüglich aus meinem Bett geschmissen, doch bei ihm war es irgendwie okay. Vielleicht sogar etwas angenehm. Doch dieses Empfinden schob ich auf meinen außerordentlichen Schlafmangel.

Diese Begründung, gemischt mit seinem Alkoholkonsum, verwendete ich ebenfalls als Ausrede für seine folgenden Worte. Einen Arm um mich schlingend, raunte er mir zu: „Ich hab kein Plan wieso,... aber immer, wenn ich dich nicht beschützt weiß, fühle ich mich so unendlich hilflos." Seine Stimme war tief und klang gedankenverloren.

„Es ist... ich kann's nicht beschreiben.", eine längere Pause folgte. „Wenn man durch eine Menschenmenge Fremder geht, weiß man schon nach ein paar Minuten: Sie alle haben Stärken und auch Schwächen. Unterbewusst und bestimmt nicht gerade offenkundig, zeigen sie es dir. Doch du, du bist so darauf fixiert, keinerlei Schwäche zu zeigen, dass es schon wieder zur einer wird. Du faszinierst mich. Mit jedem Atemzug, versuchst du stärker zu wirken, bemerkst aber nicht, wie stark du eigentlich schon bist. Schwach zu sein, wird armselig interpretiert, als sei es schlimm. Dabei vergisst man schnell, dass man nur stark sein kann, wenn man auch fähig ist, das Antonym mit straffen Schultern zu präsentieren."

Ich versuche ihm keine Reaktion zu zeigen, in der Hoffnung, er spräche weiter. Als könnte er es ahnen, fuhr er fort. „Es ist so leicht, die Lücken andere zu entschlüsseln, mit nur einem Blick. Sie alle haben welche. Von der Queen Englands bis hin zum Hausmeister unserer Schule. Stell sie nebeneinander und du wirst sehen, keiner der beiden ist der Perfektion näher, als der andere. Auch du hast keine Möglichkeit ihr umfassender zu sein. So sehr du es auch zu versuchen vermagst. Akzeptier deine Lücken, um deine Fülle zu genießen."

Die Philosophie seiner Dikta berührten mein eisig geglaubtes Herz, so intensiv, dass es durch meine Augen zu schwitzen begann. Trotzdem wiegte die Erkenntnis, seiner Rede entsprungen, mich behutsam in den verlangten Schlaf.

ᖴᗩᑌSTSᑕᕼᒪᗩG ᑎᗩᑕᕼ ᒪIEᗷE!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt