KAPITEL 10

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Ich war den Tränen der Verzweiflung nah, so nah wie an keinem anderen Tag der vergangenen Monate. Denn der Freitag war eine einzige Katastrophe, die schon mit den ersten Sonnenstrahlen begonnen hatte. Erst hatte ich mein Weckerklingeln vollkommen verschlafen, dass ich sowieso schon viel zu spät dran gewesen war für die Uni. In all der Eile hatte ich dann meinen Laptop in der Wohnung liegen gelassen und war ohne ihn zur Uni gefahren, dass ich mich samt Zettel und Stift durch die Kurse hatte quälen müssen. Es war alles andere als angenehm gewesen. Und später hatte ich so rasende Kopfschmerzen gehabt, wie schon lange nicht mehr. Doch die Krönung des ganzen Tages war die Nachricht, die ich nach meinen Kursen auf meinem Handy vorgefunden hatte, wo sie eigentlich schon heute Morgen gewesen war, nur hatte ich sie in all der Eile übersehen: Liv würde mich nicht nach Portland begleiten, weil sie mit Fieber im Bett lag und es gerade einmal so schaffte, zur Toilette zu gehen, ohne in der nächsten Sekunde zusammenzubrechen. Es hatte sie wirklich erwischt.                                                                                                                                               

Nun hockte ich völlig niedergeschlagen und mit Tränen nassen Wangen auf dem Dach unseres Wohnhauses, das in den letzten Monaten zu einem meiner Lieblingsplätze geworden war. Es war still, angenehm und der Blick auf den Sonnenaufgang war jedes Mal atemberaubend. Doch das Beste war, dass dieser Platz mir gehörte und ich herkommen konnte, wenn ich nachdenken wollte. Wie jetzt, in dieser schier aussichtslosen Situation. Denn in weniger als vier Stunden musste ich am Flughafen in Los Angeles sein, wenn ich meinen Flug noch rechtzeitig bekommen wollte. Es machte mir höllische Angst, zumal ich mich diesem Schicksal alleine stellen musste, weil Liv nicht dabei sein konnte. Auch wenn ein kleiner, egoistischer Teil von mir sie dafür hasste, wusste ich ganz genau, dass es nicht ihre Schuld war. Wer hatte schon ahnen können, dass sie ausgerechnet heute krank wurde? Gleichzeitig war ich mir ziemlich sicher, dass ich die kurze Zeit in Portland nicht unbeschadet überstehen würde. Ohne Liv war ich den Erinnerungen und dem Schmerz gnadenlos ausgeliefert. Ich würde zusammenbrechen.

Langsam ließ ich meinen verschleierten Blick über die bunten Dächer der benachbarten Häuser wandern, während stumme, schmerzerfüllte Tränen meine heißen Wangen hinunterliefen. Der Tag hatte mit einer Katastrophe begonnen und würde ganz sicher auch mit einer enden. Liv konnte nicht bei mir sein, Newton belog mich seit einer Woche und Emma? Emma war tot und alles, was mir von ihr geblieben war, waren diese schrecklich schmerzhaften Erinnerungen, denen ich mich in Portland völlig alleine stellen musste, während meine Eltern nicht die leiseste Ahnung von meinem Schmerz hatten. Mein ganzes Leben war ein einziges Chaos, das mit jedem Tag größer wurde. Ich lebte mit der Illusion, dass ich eines Tages vergessen könnte und doch wusste ich, dass dies niemals passieren würde. Das waren die Momente, in denen ich mein altes Leben zurückhaben wollte. Ich wollte nicht länger lügen und Emma jeden verdammten Tag vermissen.

Hier oben auf dem Dach schien alles so bedeutungslos zu sein. Die Zeit verging anders und all meine Probleme schrumpften, obwohl das mehr als unmöglich war. Ich fühlte mich wohl hier, gleichzeitig wusste ich, dass ich wieder in mein Zimmer steigen, das Fenster schließen und zum Flughafen fahren sollte, zu dem ich mindestens zwei Stunden unterwegs sein würde. Aber ich tat nichts davon. Stattdessen blieb ich sitzen, hing meinen Gedanken nach und zuckte schließlich erschrocken zusammen, als mich auf einmal eine Hand an der Schulter berührte. Wärme legte sich über mich und ließ mich erschauern. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass es Newtons war. Seine Wärme hätte ich überall erkannt. Trotzdem war sie das letzte, was ich gerade spüren wollte.

»Was machst du hier draußen?«, fragte er mit einem amüsierten Unterton in der Stimme,   »Solltest du nicht schon längst auf dem Weg zum Flughafen sein?« Seine Hand lag so schwer und präsent auf meiner Schulter, dass ich sie am liebsten abgeschüttelt hätte, während ich spürte, wie Wut meine Sinne überflutete. Er hatte mich belogen und nun stand er hier, als wäre alles in Ordnung?

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