KAPITEL 35

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Newton

Als ich das erste Mal aus meinem persönlichen Albtraum erwachte, fühlte ich mich verloren. Ich vernahm ein regelmäßiges Piepen, das sich anhörte, als hätte ich vergessen, meinen bescheuerten Wecker auszustellen. Ich hörte Stimmen, die ich nicht zuordnen konnte, spürte ein Gewicht an meiner Hand, als würde sie gehalten werden, und den Schmerz, der in meinem gesamten Körper pulsierte und in meinem Schädel zu explodieren schien. Meine Kehle war trocken, dass ich nicht schlucken konnte, der Schlauch, der mir beim Atmen half, fühlte sich unangenehm an und meine Glieder kribbelten, als hätten sie Jahrzehnte lang geschlafen. Und dann waren da meine Augen. Ich wollte sie öffnen, wollte sehen, zu wem die Stimmen gehörten, aber meine Lider fühlten sich schwer an und schien aufeinander zu kleben. Egal wie sehr ich mich anstrengte, sie blieben zu. In meinem Kopf schrie eine Stimme um Hilfe, schrie nach Everlyn, suchte einen Weg aus der Schwärze, doch es gab keinen. Ich fand ihn nicht und so blieb ich in der Schwärze, bis ich mich in ihr verlor und zusehen musste, wie mir das kleine Stück Bewusstsein, das ich mir hart erkämpft hatte, wieder entglitt. Ich war da und doch wieder nicht.

Die Zeit verging, ich merkte es nicht. Und dann wachte ich erneut auf, nur dass ich es dieses Mal schaffte, meine schweren Lider zu öffnen. Wieder war da dieses regelmäßige Piepen, die Stimmen, das Gefühl an meiner Hand, der Schmerz in meinem Schädel, der Beatmungsschlauch in meinem Mund und das Kribbeln meiner Gliedmaßen. Mein Finger zuckte, strich über Haut. Die Stimmen wurden lauter, aufgeregter. Und dann endlich öffnete ich mühsam meine Augen. Zuerst sah ich nur Umrisse, verschwommene Gestalten, einen Mann, der neben meinem Bett stand, und eine Frau, deren Gesicht sich in mein Blickfeld schob. Jemand rief meinen Namen, jemand verließ das Zimmer. Langsam klärte sich mein Blick und ich sah in das Gesicht meiner Mom. In das Gesicht meiner Mom? Dann glitt mein Blick durch sie hindurch. Ich sah ein unbekanntes Zimmer mit unbekannten Geräten. Da war eine Glastür, Menschen in Arztkitteln liefen vorbei. Arztkittel? Wo war ich? Wieso trugen sie Arztkittel? Mein Herz begann zu rasen, das Piepen wurde lauter geriet aus dem Takt. Erst jetzt wurde mir klar, dass es mein Herzschlag war, der dieses Piepen verursachte. Panik stieg in mir auf, mein Atem geriet trotz des Beatmungsschlauches aus seinem Rhythmus, während ich die beruhigenden Worte meiner Mom kaum wahrnahm.

Der Druck in meinem Schädel wurde schlimmer, meine Panik größer. Was zur Hölle war mit mir passiert? Warum lag ich in einem Krankenhaus? Warum tat mein Schädel so weh? Warum fühlte sich mein Körper an, als hätte mich ein Lkw überfahren? Warum war meine Mom hier? Warum war Everlyn nicht hier? Everlyn, ich brauchte sie. Warum wusste ich nicht mehr, was passiert war? In meinem Kopf türmten sich die Warum-Fragen, während mein Blick unruhig zwischen meiner Mom, die plötzlich weinte, dem Herzmonitor und der Glastür hin und her zuckten. Ich wollte nicht hier sein. Aber ich konnte nicht weg. Ich spürte, wie Mom meine Hand drückte und irgendwas murmelte, dass sich verdammt nach »Alles wird gut, Newton.« anhörte. Ich wollte etwas erwidern, fragen, was wieder gut werden würde, aber der Beatmungsschlauch ließ es nicht zu. Ich konnte nur blinzeln.

Dann endlich sah ich, wie die Glastür sich öffnete. Ein großer Mann mit schwarzen Haaren, der ungefähr in den Vierzigern sein musste, betrat den Raum. Die ganze Zeit über lag sein väterlicher Blick auf mir. Der Ausdruck in seinen Augen schaffte es irgendwie, mir ein Stück meiner Panik zu nehmen. Er kam geradewegs auf mich zu. Als ich hinter ihm Chase entdeckte, der sichtlich besorgt aussah und sich immer wieder durch seine grässlichen, langen Haare fuhr, fühlte ich mich das erste Mal, seit ich die Augen geöffnet hatte, nicht mehr verloren. Chase war hier, mein bester Freund war hier. Aber wo ist Everlyn, fragte mein rasendes Herz. Ich sah sie nicht. Eve war nicht hier, nur Chase, Mom und der Arzt.

Meine Augen, die ich nun endlich ganz öffnen konnte, schossen zu dem Arzt, der vor meinem Bett stehen geblieben war und auf mich herabsah. Eine Falter lag zwischen seinen dunklen Augenbrauen, dann vernahm ich seine tiefe Stimme. »Newton«, sagte er und warf einen Blick auf den Herzmonitor, dann wieder zu mir. »Sie sind aufgewacht, wie ich sehe, das ist gut. Ich bin Dr.Clarkson und ich kann mir vorstellen, dass Sie sicher unglaublich viele Fragen haben, aber erstmal möchte ich Sie bitten, meinen Anweisungen zu folgen. Wir müssen wissen, ob es Ihnen gut geht. Haben Sie mich verstanden, Newton?« Seine Worte drangen zu mir durch, aber ich antwortete nicht, stattdessen bildeten sich augenblicklich noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf. Ob es mir gut ging? Was war mit mir passiert, dass er das wissen musste? War ich nicht eben noch auf dem Weg zu dem verdammten Familientreffen gewesen und...Das Familientreffen. Fuck. Plötzlich prasselten die Erinnerungen in einem Affentempo auf mich ein, explodierten in meinem Kopf, trieben die Panik erneut an. Fuck. Fuck. Fuck.

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