KAPITEL 36

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Wie von alleine flogen meine Augen über mein Handydisplay, über die wenigen Worte, die mir direkt ins Herz schnitten und es bluten ließen. Es war fast drei Wochen her, seit ich das Krankenhaus verlassen hatte. 11 Tage, seit Liv mich aus meinem Loch geholt hatte, und ein Tag, seit Newton aufgewacht war. So viele Tage, in denen es keine Minute gegeben hatte, in der ich nicht an Newton gedacht hatte. Noch hatte Newton nicht versucht, mich zu kontaktieren, weil er vermutlich andere Sorgen hatte und gerade einmal wenige Stunden vergangenen waren, seit er aus dem Koma erwacht war, aber ich hätte auch nicht riskiert, eine Nachricht von ihm zu öffnen. Leider hatte ich nicht damit gerechnet, dass es auch andere Menschen gab, die mein Herz mit der Erwähnung von Newton zum Bluten bringen konnten. Mit nur wenigen Worten.

[Chase – 12.01am]: Newton hat gestern nach dir gefragt, Everlyn. Er hat die ganze Zeit nur an dich gedacht, seit dem Aufwachen, da bin ich mir sicher. Ich möchte dich nicht verurteilen, aber du hättest da sein müssen. Er braucht dich, sehr.

Meine Augen füllten sich in Windeseile mit Tränen, die in kleinen Rinnsalen meine blassen Wangen hinunterliefen, und mein Herz begann, sich schmerzhaft zusammen zu ziehen. Das Mädchen mit den blaugrauen Augen, das ich vor mir im Spiegel sah, war schon längst nicht mehr glücklich. Sie war traurig, erfüllt von Schmerz und Schuldgefühlen. Ihre Wangen waren blass und wirkten hohl, während ihre blaugrauen Augen ihren Glanz verloren hatten und ihr Herz zerfetzt war. Warum hatte ich nicht daran gedacht, dass Chase solche Worte schreiben könnte? Newton war sein bester Freund, wie er auch meiner war. Chase war da gewesen, als Newton aufgewacht war, ich nicht. Ich wusste, dass Chase seine Worte nicht böse meinte, er machte sich nur Sorgen um uns und wollte helfen. Seine Nachricht führte mir wieder und wieder vor Augen, was für ein schrecklicher Mensch ich war, was für schreckliche Fehler ich beging, wie schrecklich kaputt ich war. Es war ganz sicher nicht Chases Absicht gewesen, mir das vor Augen zu führen, aber genau das waren die Dinge, die mir dabei durch den Kopf schossen und mich innerlich zerstörten.

Schweren Herzens löschte ich die Nachricht und schloss den Chatverlauf mit Chase, ohne ihm zu antworten. Was sollte ich dazu auch sagen? Vermutlich hatte Chase nicht einmal erwartet, eine Antwort von mir zu bekommen. Ich ignorierte mein Spiegelbild, das übel aussah, spritzte mir stattdessen etwas Wasser ins Gesicht und betätigte zum Schein die Toilettenspülung, ehe ich mit gesenktem Kopf die Toilette verließ und zurück hinter den Tresen des Cafés schlich, wo eine grimmig dreinschauende Leyla an der Kaffeemaschine zugange war. Zu meinem Pech war sie nicht allein, ausgerechnet jetzt, wo ich vermutlich noch immer aussah, als hätte ich Tage durchgeweint. Super, ich machte mich schon einmal darauf gefasst, mit Fragen bombardiert zu werden.

»Ever«, rief Liv lächelnd, ehe sie Leyla stehen ließ und mich in ihre Arme zog. Diesmal war ich diejenige, die sich am liebsten aus der Umarmung geschält hätte. In letzter Zeit war ich wirklich zu Ashleys und Leylas Zwilling geworden, was keineswegs ein Vorwurf sein sollte. Aber Menschen und Körpernähe waren mir momentan einfach zu viel, allein schon deswegen, weil ich 24/7 vollkommen verquollen und traurig aussah. Menschen und Körpernähe bedeuteten Fragen und Fragen bedeuteten, dass ich antworten musste, und darauf konnte ich gut verzichten. Mir war einfach nicht nach Reden zumute.

»Liv, mit dir habe ich gar nicht gerechnet«, brachte ich steif hervor und warf Leyla über Livs Schulter einen entschuldigenden Blick zu, den sie nur mit einem halben Schulterzucken quittierte. Anscheinend störte sie es nicht, dass meine Freunde mich ständig bei der Arbeit überrumpelten. Schön für sie, denn mich störte es in letzter Zeit schon. Sie schienen überall zu sein, als hätten sie es sich zur Aufgabe gemacht, mich zu bewachen.

»Das war auch eher spontan. Chase und ich treffen uns am Krankenhaus, um Newton zu besuchen, deswegen dachte ich mir, dass ich auf dem Weg kurz bei dir vorbeischaue.« Bei seinem Namen zogen sich meine Organe automatisch zusammen und ein dumpfer Schmerz durchzuckte meinen Brustkorb. Liv schien nicht zu merken, wie ich mich versteifte. Oder sie ignorierte es. Wie auch immer. Aber sie wusste definitiv, wie viel Schmerz allein sein Name in mir auslöst.

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