KAPITEL 24

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Nachdem ich die ersten zwei Tage nach Livs Abreise mit dem Streichen und Einräumen meines Zimmers verbracht und dabei nicht sonderlich viel von der Außenwelt gesehen hatte, sehnte ich mich nach etwas Abwechslung und vor allem Gesellschaft, um nicht ständig in meinen eigenen Gedanken, die mich an dunkle Orte entführten, an denen ich lieber nicht sein wollte, verloren zu gehen. Anfangs hatte ich noch gehofft, dass Ashley eventuell doch bereit dazu sein würde, mir zu helfen, aber mir war schnell klar geworden, dass diese Hoffnung niemals zu einer Tatsache werden würde. Denn Ashley verließ die Wohnung am frühen Morgen und kam erst mitten in der Nacht wieder, wenn ich längst schlief. Keine Ahnung, wie sie es mit so wenig Schlaf durch den Tag schaffte, aber jedes Mal, wenn ich nachgesehen hatte, war ihr Zimmer leer gewesen. Also hatte ich auf ihre Gesellschaft verzichtet und stattdessen Musik gehört. Allerdings half auch die nicht, um meine ständig kreisenden Gedanken zu übertönen.

Immer wieder sprangen meine Gedanken von Newton über das Gespräch mit Liv bis hin zu Emma, an deren Tod ich mir lange nicht mehr erlaubt hatte zu denken, aus Angst, ich könnte wieder zu diesem Wrack werden, das ich die ganzen letzten Monate über gewesen war, bevor ich Emmas Abschiedsbrief erhalten hatte. Mir war klar, dass Verdrängen sicher nicht die beste Taktik war, aber bis ich einen Weg gefunden hatte, um mit diesen Erinnerungen zu leben, war es die einzige Lösung, die ich hatte. Ich hasste es, dass mein Kopf so unglaublich voll war, dennoch war mir einiges klar geworden während dieser letzten zwei Tage.

Denn ich wusste nun endgültig, dass ich einen Schlussstrich hinter das Kapitel Emma setzen musste, wenn ich nicht ständig Angst haben wollte, erneut zusammenzubrechen. Ich fühlte mich immer mehr wie ein instabiles Baugerüst, das nur einen kleinen Windhauch benötigte, um zusammenzubrechen und jeden Menschen in seiner Umgebung unter sich zu begraben. Und so wollte ich mich nicht für den Rest meines Lebens fühlen, also brauchte ich ein Ende. Emma würde immer meine beste Freundin bleiben und die Erinnerungen an unsere Jahre der Freundschaft würde ich nie vergessen können, aber das würde mir meine beste Freundin nicht zurückbringen, egal wie sehr ich es mir wünschte. Wenn ich die Chance auf ein Leben ohne den Schmerz in meinem Herzen haben wollte, dann musste ich endlich das tun, was Emma in ihrem Brief von mir gewollt hatte: Nicht aufgeben, kämpfen und nach vorne schauen. Und genau das wollte ich endlich tun, aber nicht alleine.

Denn mein bester Freund hatte es so sehr verdient, endlich wieder der zu sein, der er vor Emmas Tod gewesen war. Er hatte es verdient, endlich wieder Gitarre zu spielen und das zu tun, was er liebte. Er sollte glücklich sein und sein Leben leben, so lange es möglich war. Mein Herz ertrug es schon lange nicht mehr, Tag für Tag zu sehen, wie er ein bisschen mehr seiner Selbst verlor, weil der Schmerz ihn innerlich zerfraß. Er war gut darin, seine wahren Gefühle zu verstecken, aber er war mein Newton, ich wusste, wie es in ihm aussah. Und er war schon lange nicht mehr dieser strahlende Junge, den ich vor Jahren in Portland kennengelernt hatte. Ich wollte so sehr, dass er sein Strahlen endlich zurückbekam und nicht jeden Tag ein bisschen mehr zerbrach. Aber dazu musste ich ihm endlich zeigen, dass er nicht alleine wardass er sich fallen lassen konnte, wenn ich da war.

Aber wenn wir die Dämonen unserer Vergangenheit besiegen wollten, dann gab es nur eine einzige Möglichkeit, das zu tun, und es machte mir verdammt Angst: Wir mussten nach Portland. Der Ort, wo alles begonnen hatte und schließlich auch enden sollte. Mir war schon lange klar, dass es nicht die Erinnerungen alleine so schwer machten, an diesen Ort zurückzukehren. Es waren auch die Menschen. Menschen wie Emmas Eltern, ihre Schwester oder Mom und Dad, die da gewesen waren, als unser Leben sich um 180 Grad gewendet hatte. Und dann war da noch die Tatsache, dass ich seit der Beerdigung nicht ein einziges Mal an ihrem Grab gewesen war, weil der Schmerz mich zu sehr im Griff gehabt hatte.

In den letzten zwei Tagen war mir umso mehr klar geworden, dass ich nach Portland gehen musste, um mich dem Schmerz zu stellen. Ich musste mit Mom und Dad reden, ihnen erzählen, was seit Emmas Tod in mir vorging. Ich musste Emmas Familie und ihr Grab besuchen und Plätze, mit denen ich unsere Freundschaft verband. Ich durfte nicht mehr davonlaufen, wie ich es seit über einem Jahr tat. Ich musste mich dem Schmerz stellen und die Erinnerungen zu lassen. Es machte mir höllische Angst und am liebsten hätte ich diese hirnrissige Idee wieder über Bord geworfen, aber das würde es nicht besser machen. Und wenn Newton bei mir sein würde, war ich mir mehr als sicher, dass wir das zusammen durchstehen konnten.

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