KAPITEL 16

80 8 1
                                    

Als ich an diesem Morgen die Augen aufschlug und mich in meinem Bett streckte, wusste mein Körper lange vor meinem Kopf und meinem Herzen, welcher Tag heute war. Denn es war ein dumpfer Schmerz in meinen Knochen, der mich aus meinen Träumen holte und sich in kurzer Zeit einen Weg zu meinem Herzen bannte, das für einen Schlag auszusetzen schien, als auf den Schmerz in meinem gesamten Körper die Erinnerungen in meinem Kopf folgten. Und schließlich die Erkenntnis, die mich leise auf keuchen ließ.

Happy Birthday, Emma, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf. Dann kamen endlich die Tränen. Erst nur wenige, bis sie schließlich in einem kleinen Wasserfall meine heißen Wangen hinunterliefen und auf mein dunkles Tanktop tropften. Es waren stumme Tränen, die viel intensiver und schmerzhafter waren, und doch so, dass niemand in dieser Wohnung mitbekommen würde, was los war. Nicht, dass es irgendwen an diesem Tag gekümmert hatte, aber ich brauchte diese Gewissheit, dass ich alleine war. Nach Emmas Tod hatte ich mir geschworen, keinen Tag mit Tränen zu beginnen, weil darauf niemals etwas Gutes folgen konnte. Doch heute brachte ich es nicht über mich, meine Tränen zu verdrängen. Es tat gut, dem Schmerz freien Lauf zu lassen und nicht verdrängen zu müssen, wie ich es die restlichen Tage des Jahres tat, aus Angst, jemand könnte merken, wie zerbrochen ich wirklich war.

Langsam setzte ich mich in meinem Bett auf, ehe sich mein von Tränen verschleierter Blick automatisch auf die gegenüberliegende Wand heftete, an der ich vor Monaten ein einziges Foto aufgehängt hatte, das vor mehr als einem Jahr an meinem 18.Geburtstag entstanden war. Es zeigte Leo, Sky, Newton, Emma und mich, wie wir einander anlächelten und glücklich waren. Es war ein großartiger Tag gewesen und zugleich war es mein letzter Geburtstag mit Emma gewesen, was einer der Gründe war, warum ich diesen Tag gerne aus meinem Kopf verdrängte. Denn hätte mir an diesem Tag jemand gesagt, dass es mein letzter Geburtstag mit meiner besten Freundin sein würde, hätte ich es niemals geglaubt. Verrückt, wie das Leben spielen konnte, wenn man am wenigsten damit rechnete.

Ich erinnerte mich noch gut an die ersten Monate nach ihrem Tod, obwohl ich diese wie in Trance durchlebt hatte. Ich hatte einfach nicht wahrhaben wollen, dass meine beste Freundin nie wieder bei mir sein würde. Ich hatte getobt, geweint, gewütet und das Leben verflucht, aber nicht aus Trauer, sondern viel mehr aus Wut und Enttäuschung. Erst an Emmas Geburtstag – den ersten, den sie nicht mehr erlebt hatte – hatte ich meine vor Wut verschlossenen Augen endlich geöffnet und verstanden, dass meine Freundin tot war. Da war die Trauer gekommen, die mich hatte zusammenbrechen lassen. Niemand hatte mich aufgefangen, als ich den Schmerz endlich zugelassen hatte. Und Emmas Geburtstag war für mich zum schrecklichsten Tag des Jahres geworden. Zugleich war es der Tag gewesen, der mich zurück ins Leben gebracht hatte, weil ich endlich eingesehen hatte, dass aufgeben keine Option war. An diesem Tag hatte ich endlich angefangen, wieder für die Schule zu lernen und mich meinen Eltern zu öffnen.

Das änderte jedoch nichts daran, dass ihr Geburtstag auch in diesem Jahr ein schrecklich schmerzhafter Tag war, an dem ich am liebsten die Uhr vordrehen würde, um diesen Schmerz nicht ertragen zu müssen. Natürlich war mir bewusst, dass dieser Tag mir im letzten Jahr irgendwie das Leben gerettet hatte, weil ich endlich wieder angefangen hatte zu kämpfen. Doch das hieß noch lange nicht, dass ich in diesem Jahr bereit dazu war, endlich nach vorne zu blicken. Denn auch nach all dieser Zeit tat es noch immer schrecklich weh, an Emma und unsere gemeinsamen Erinnerungen zu denken. Es war ein Schmerz, der mich von innen heraus zerstörte, bis nur noch viele kleine Einzelteile übrig waren, die nicht mehr zusammenzupassen schienen. Ich hasste diesen Schmerz so sehr, aber er zeigte mir auch, dass ich nicht nur aus schwarzer Leere bestand, wie es sich an manchen Tagen anfühlte.

Mit zitternden Händen strich ich mir eine verwirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und schloss einen Herzschlag lang meine verquollenen Augen, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen, das durch das große Fenster in mein Zimmer schien und es in ein goldenes Licht tauchte, das mir in den Augen wehtat. Schließlich schlug ich meine Lider auf und rutschte an die Kante des Bettes, um meine Beine auf den Boden zu setzen. Als ich mich vom Bett hochdrückte, begann sich die Welt zu drehen, sodass ich mich auf meinem Bett abstützen musste, um nicht umzufallen. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und hinter meinen Schläfen setzte ein fieses Pochen ein, als hätte ich den Kater meines Lebens.

LEAVE THE PAST BEHINDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt