KAPITEL 27

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Durch die Straßen der Stadt zu laufen, in der ich fast 19 Jahre lang gelebt hatte, fühlte sich nach, als wären wir in einem vollkommen anderen Sonnensystem gelandet. Ich kannte jeden Winkel und jede Ecke dieser Stadt und trotzdem hatte ich plötzlich Angst, mich zu verlaufen und nie wieder einen Weg heraus zu finden, was eindeutig daran liegen musste, dass mein Kopf sich nach all den Stunden und der ständigen Konfrontation mit Erinnerungen an vergangene Zeiten anfühlte wie Zuckerwatte, die kurz davor war, sich wieder in ihre Bestandteile aufzulösen. Der Einzige, der mich daran hinderte, mich in meine Bestandteile aufzulösen, war Newton. Nachdem wir uns auf dem Friedhof (Ja, im Nachhinein klang das wirklich gruselig) unseren Gefühlen hingegeben und Minuten lang nichts anderes getan hatten, als uns zu küssen, hatten wir Hand in Hand den Friedhof verlassen, um unseren Rundgang durch die Stadt zu beginnen. Zusammen, was sich verdammt seltsam und zugleich wunderschön angefühlt hatte, dass ich noch immer nicht ganz glauben konnte, dass es die Realität und nicht irgendein Traum war. Wir hatten uns darauf geeinigt, es langsam angehen zu lassen und zu schauen, wo es uns hinführen wird, auch wenn wir beide längst wussten, dass wir zusammengehörten. Ich hatte noch immer Angst, dass es unsere Freundschaft zerstören könnte, aber ich liebte ihn und war bereit, es auf mich zukommen zu lassen.

Vom Friedhof aus waren Newton und ich direkt zu den Orten gegangen, die uns früher einmal viel bedeutet hatten. Orte, an denen wir Erinnerungen geschaffen hatten. für wenige Stunden hatten wir unsere Freundin gedanklich wieder zum Leben erweckt und die vergangenen Jahre Revue passieren lassen, um endlich Frieden finden zu können. Wir waren in Emmas Elternhaus gewesen, hatten ihre Familie besucht, mit ihnen geredet und Tränen vergossen. Emmas kleine Schwester Lydia war noch genauso ein lebensfrohes und schüchternes Mädchen wie damals, aber sie hatte sich gemacht und wurde ihrer Schwester von Tag zu Tag ähnlicher. Und dann waren da Mr. Und Mrs.Langton, die genauso wie in meinen Erinnerungen gewesen waren, auch wenn man sah, wie sehr der Verlust ihrer Tochter sie gezeichnet hatte, doch ihre warme Herzlichkeit hatte die Familie nicht verloren. Danach hatten Newton und ich noch einige andere Orte wie unsere alte Highschool oder das Baumhaus im Wald, in dem Emma und ich als Kinder gespielt hatten, besucht. Wir hatten Portland neu entdeckt, wiedererkannt und in unsere Herzen gelassen.

Es waren schöne Stunden gewesen, doch ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so viele Tränen vergossen hatte wie an diesem Tag. Es war anstrengend gewesen und zerrte an meinem Geist, der von all der Konfrontation plötzlich müde und erschöpft war, genauso wie mein Körper und mein Herz. All den Schmerz zu verarbeiten würde mich Kraft kosten, aber ich war mehr als bereit dazu. Den ganzen Tag über hatte ich so viel geweint und getrauert, dass ich nicht eine Träne mehr übrig hatte. Vermutlich war mir meine Erschöpfung sogar anzusehen, die sich langsam, aber sicher auch auf Newton übertragen hatte, der mir den ganzen Tag über nicht von der Seite gewichen war. Er hatte meine Hand gehalten, mich getröstet, seine Arme um mich geschlungen und mich immer und immer wieder geküsst, bis mir schwindelig wurde vor Verlangen und mein Kopf wie leergefegt gewesen war. Nie war die Stimmung zwischen uns so harmonisch gewesen wie heute, trotz der ganzen Strapazen.

Am späten Nachmittag hatten wir uns schließlich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um dem Stress des Tages zu entkommen und ein bisschen Zeit für uns zu haben. Die kleine Wiese, auf der wir nun seit zwei Stunden lagen, war etwas außerhalb der Stadt und einer der wenigen Plätze, mit denen wir keine Erinnerungen an Emma verbanden. Vielleicht war es genau der Grund, warum wir ausgerechnet hier gelandet waren und nicht in meinen Garten oder sonst wo. Nebeneinander lagen wir mitten im Gras, das im Gegensatz zu dem in Silverhaven sogar grün war und um uns herum in die Höhe wuchs, weil keiner herkam, um das Gras zu mähen. Es streckte sich der tiefstehenden, strahlenden Sonne, die unsere Umgebung in goldenes Licht tauchte und strahlen ließ, entgegen. Newton hatte seinen Arm unter meinen Kopf gelegt, sodass ich mich an ihn kuscheln konnte, während unsere ineinander verschlungenen Hände auf seinem Bauch ruhten. Hin und wieder spürte ich, wie sein warmer Atem mein Ohr kitzelte, wenn seinen Kopf drehte und mich ansah, und wie sein Bein gegen meines stupste, als hätte er das dringende Bedürfnis, mich zu berühren. Es war überwältigend, was dieser Moment auf dem Friedhof mit uns gemacht hatte.

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