KAPITEl 38

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Newton

»Bist du sicher, dass ich wirklich nach Hause fahren soll?«, fragte meine Mom zum wiederholten Mal, nachdem sie bereits zwei Stunden neben meinem Bett gesessen und dafür gesorgt hatte, dass ich nicht vor Langweile doch noch tot umfiel, was mittlerweile gar nicht so abwegig war. Denn seit fast drei Wochen tat ich nichts anderes außer zu essen,  zu schlafen, mich zu bewegen und den Ärzten für Untersuchungen zur Verfügung zu stehen.

Dennoch konnte ich ein Augenrollen nur gerade so unterdrücken. Ich wusste, dass meine Mom es gut meinte und sich um mich sorgte, aber seit dem Unfall waren fast fünf Wochen vergangen. Ich war längst über den Berg und wartete darauf, dass diese verdammten Ärzte mich endlich hier rausließen, damit ich zu Everlyn konnte. Da mein Handy beim Unfall kaputt gegangen ist und Everlyn so oder so nicht ans Telefon gehen würde, wenn ich sie doch anrufen würde, hatte ich keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Deswegen musste ich dringend hier raus. »Ich bin mir ziemlich sicher, Mom«, erwiderte ich und lächelte sie aufmunternd an. »Du bist jetzt seit fast fünf Wochen in Silverhaven. Noah hat es zwar gut bei Grandma und Grandpa, aber er braucht dich mehr als ich. Mir geht es gut, ich mache tolle Fortschritte und sobald die Ärzte sich sicher sind, dass meine Kopfverletzung genug abgeheilt ist, werde ich sowieso entlassen. Also fahr zurück nach Hause.«

Ich sah die Unentschlossenheit in ihren Augen, die meinen so ähnlich waren, als sie sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Bobs aus dem Gesicht strich und leise seufzte. Mir war klar, wie ungerne sie mich hier zurückließ, aber sie wusste genauso gut wie ich, dass ihre Anwesenheit hier längst nicht mehr nötig war. Ich hatte noch immer Liv und Chase, die so oft es ging zu mir kamen, manchmal hatten sie sogar Ashley im Schlepptau, auch wenn die mindestens genauso wenig hier sein wollte wie ich. »Mom, es ist wirklich in Ordnung, glaub mir. Chris ist doch auch längst wieder Zuhause. Und Noah vermisst dich wirklich sehr, also fahr. Ich bin schon groß, weißt du.« ich zwinkerte ihr zu und triumphierte innerlich, als ich ihre Mundwinkel zucken sah.

Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf meine, dann lächelte sie und für einen Moment fielen all die Sorgen und Ängste der letzten Woche von ihr ab und ließen sie um Jahre jünger wirken. »Es gefällt mir zwar nicht, dich alleine zu lassen, aber ich denke, du hast recht. Ich werde den nächsten Flug zurück nach Portland nehmen«, sagte sie, ehe sie meine Hand drückte. Ich erwiderte es.

»Kommst du alleine zum Flughafen oder soll ich Chase fragen, ob er dich fährt?«

Mom schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, mein Schatz. Ich habe noch einen Leihwagen, den ich dann am Flughafen in Los Angeles wieder abgebe, aber lieb von dir, dass du fragst.«

Ich nickte und ließ mich in eine aufrechtere Position gleiten, ehe ich meine Beine aus dem Bett schwang und aufstand. Kurz drehte sich die Welt, wie sie es seit Neuestem immer tat, wenn ich aufstand, dann war alles wieder normal. Ich war zwar noch etwas wackelig auf den Beinen und sollte mich noch nicht allzu viel bewegen, aber ich musste meine Mom einfach zum Abschied umarmen. Im Stehen überragte ich sie um gut einen halben Kopf, auch wenn meine Mom verhältnismäßig groß war. So, wie Everlyn, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf. Bei diesem Gedanken zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich vermisste es, wie sie ihr Gesicht an meinem Hals vergrub, wenn wir uns umarmten. Ich vermisste ihre Umarmungen. Sie. Ihre Wärme. Ihre Stimme.

»Du sollst doch nicht aufstehen«, durchbrach die Stimme meiner Mom schließlich meine Gedanken. Ihr strafender Blick lag auf mir, dabei funkelten ihre Augen gefährlich. Sie sah aus wie damals, als ich auf den Dachboden geklettert war, obwohl sie mir strikt verboten hatte, dort hochzugehen.

Aber weil ich es noch immer liebte, meine Mom zu ärgern, grinste ich. »Keine Sorge, von einem Mal wird schon nicht die Welt untergehen, vor allem nicht, wenn ich nur meine allerliebste Mutter umarmen möchte.« Sie sah mich noch immer wenig begeistert an, legte aber sofort ihre Arme um mich. Einen, zwei Herzschläge lang verharrten wir so. Ich genoss ihren frischen Duft, der mich an meine Kindheit erinnerte, und vergaß für wenige Sekunden meine Sehnsucht nach Eve. »Es war schön, dich hier zu haben, Mom. Hab einen guten Flug und gib Noah einen Kuss von mir«, sagte ich schließlich, als wir uns voneinander lösten.

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