9003 Follower, oder auch Kapitel XIII

104 20 15
                                    

Mittwoch, 07.07: Ivy

Hoffentlich würde sie antworten. Ich starrte auf die drei Nachrichten, die ich soeben abgeschickt hatte. Die letzte lautete: "Es tut mir leid. Alles, was in den letzten Wochen passiert ist." 

Würde sie mir  überhaupt je verzeihen? Mit Karla war immer alles so einfach gewesen. Selbst, wenn es einer von uns mal so richtig dreckig ging. Doch wahrscheinlich hatte ich sie verloren. So, wie sieben meiner Fans und am allerschlimmsten: Luke! 

Nichts, was ich tat, hatte jetzt noch einen Sinn. Es gab keinen Luke, keine Karla, keine Likes! Ich hatte alles verloren. Mein Tablet lag eingeschaltet vor mir und bestätigte mir all meine Zweifel. Gedankenversunken blickte ich in den wolkigen Himmel. 

Wo war die Sonne hin? Der Himmel war genauso kalt und leer, wie ich mich gerade fühlte. Die Sonne hatte sich irgendwo hinter dicken Wolkenwänden versteckt. Vielleicht würde sie ja morgen wieder dahinter hervorkommen. 

Aber was war mit meiner inneren Sonne? Würde die je wieder aufgehen? Ein leises Vibrieren riss mich aus den Gedanken. Das Tablet zeigte eine neue Privatnachricht an. Wie in Trance klickte ich darauf. 

"Noch kannst Du den ganzen Horror aufhalten! Das ist ein einmaliges Angebot. Es wird alles wieder werden, wie es einmal war. Du musst nur 2000€ auf folgendes Konto überweisen:..."

Nicht schon wieder! Diesmal schaute ich mir den Text etwas genauer an. Unten stand in kleinen Buchstaben die Anschrift der Verfasser dieser seltsamen Nachricht: Agentur 100.000 Likes, Bussardstraße 24, 14483 Berlin 

Wie schön diese Worte klangen: hunderttausend Likes. Eigentlich war das genau das, was ich brauchte: dass alles wieder werden würde, wie es einmal war. Es war, als würden die Verfasser der Nachricht meinen Traum deuten und mir für zweitausend Euro anbieten, dass er Wirklichkeit wurde. 

Wenn alles wieder so wäre, wie früher, dann wäre ich jetzt noch mit Luke zusammen, wäre mit Karla befreundet und hätte tausende Likes. Okay, ich vermischte gerade zwei Zeiten. Das mit Karla war schon länger Geschichte.

Aber wo sollte ich zweitausend Euro herholen? Ich wusste ja nicht einmal, wie man Geld überweisen konnte. Und wenn nachher doch alles nur Betrug war? Eins war klar: ich steckte schon jetzt bis zum Hals in Schwierigkeiten- und das sollte erst der Anfang sein!



Donnerstag, 08.07: Karla

Mein Herz raste wie wild, als ich vor der Leiche weg rannte. Warum hatte ich nicht auf Ivys Nachrichten gehört? Das letzte, was ich zu ihr gesagt hatte, war: Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Verabschiedete man sich so von einer jahrelangen Freundin? 

Aber jetzt war sie tot, einfach tot und ich konnte nichts mehr dagegen machen. Über mir zog sich der Himmel zu und leichter Nieselregen vermischte sich mit meinen Tränen. Eilig zogen die Menschen an mir vorbei. 

Einige blieben vor dem Eifelturm stehen und machten Fotos, andere trugen Aktentaschen und kämpften sich gestresst durch die Menge. Niemand von ihnen hatte auch nur einen blassen Schimmer davon, was in mir vorging. 

Sie alle dachten nur an sich, oder daran, dass sie noch irgendwie pünktlich ins Büro kommen mussten. Solche Sorgen hätte ich auch gerne. Ich stand nur da und ließ mich den Regen auf mich niederprasseln. 

Schon bald war ich völlig durchnässt. Mir war alles egal. Hinter mir hörte ich meinen Bruder verzweifelt meinen Namen schreien, aber ich ignorierte seine Rufe. Ein Franzose mit Hut, blitzend grünen Augen und Baguette unter dem Arm blieb kurz vor mir stehen und murmelte ein: "Versagerin", dann war er in der Menschenmenge untergetaucht. 

100.000 LikesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt