Montag, 05.07: Ivy
"Bitte bleib noch!", wimmerte ich, als Luke sich von mir abwendete. "Nein, ich kann jetzt wirklich nicht mehr." Er stand schon mit dem Gesicht zum Fenster und wollte es gerade öffnen. "Bitte!", rief ich noch einmal.
Luke drehte sich wieder zu mir um und schaute mir ernst in die Augen: "Ivy, ich bin jetzt schon viel länger geblieben, als ich sollte: fast vier Stunden. Ich muss los!" "Es ist wegen meiner Eltern, habe ich Recht?", fragte ich ihn und kochte innerlich vor Wut.
"Nein, auf gar keinen Fall", erwiderte Luke, "aber es dauert bestimmt auch nicht lange, bis die mal auf die Idee kommen, in deinem Zimmer vorbeizuschauen." "Ich hätte ja auch lieber Eltern, bei denen du einfach durch die Tür hättest kommen können, die dir nicht tausend Fragen stellen und, und...", mir gingen die Worte aus.
"Ivy, es liegt ganz bestimmt nicht an deinen Eltern. Ich bin mir sicher, sie lieben dich und machen sich nur Sorgen um dich. Wir machen jetzt einen Deal: du drehst gleich ein Video und ich wette, ich bin der erste, der es likt, okay?", schlug Luke vor. Ich merkte, dass er langsam nicht mehr wusste, was er tun sollte.
"Heute lade ich aber keine Videos hoch.", murmelte ich. "Sei doch mal ein bisschen flexibel.", lachte Luke. Mit diesen Worten zwinkerte er mir zu und kletterte unbeschwert aus dem Fenster. Es war wirklich beeindruckend, wie leicht ihm das fiel.
Eine Weile stand ich noch am Fenster und sah zu, wie Luke flink auf dem Boden landete und sich aus dem Garten schlich. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen. Nachdenklich schloss ich das Fenster und lies mich auf mein Sofa plumpsen. Sollte ich jetzt einfach ein Video drehen? Etwas Ablenkung und ein paar nette Kommentare würden mir sicherlich gut tun.
Innerhalb weniger Minuten hatte ich meine Jogginghose durch eine enge Jeans- und mein T-Shirt durch eine leichte Bluse ersetzt. Jetzt vielleicht noch eine Schleife ins Haar? In den Tiefen meiner Kommode fand ich schließlich eine Schleife, die farblich genau zu meiner Bluse passte und ich setzte mich vor mein Tablet.
Das Aufnehmen eines Videos war für mich längst nichts Besonderes mehr, eher eine alltägliche Sache, fast so wie Zähneputzen. Nur dass es mir eben viel mehr Spaß machte. Niemand lobte oder bewunderte einen, wenn man sich die Zähne geputzt hatte. Ein kurzer Blick auf die Anzeige der Follower verriet mir, dass die Anzahl meiner Fans auf 9005 gestiegen war!
Bald würde ich zehntausend Follower haben- das war ein Hundertstel von Beauty-Sophies Followern, aber eine Zahl, auf die ich durchaus stolz war. Beauty- Sophie war für mich auch gar nicht mehr so wichtig, wie früher. Klar, ich schaute noch regelmäßig ihre Videos, aber jetzt gab es ja Einfach- Ivy, niemand anderen als mich selbst!
Ich wollte gerade die Aufnahme starten, da fiel mir ein, dass ich mir noch überhaupt kein Thema ausgedacht hatte. Frisuren- und Schminktipps gab es inzwischen schon sehr viele von mir. Dann musste heute endlich einmal etwas Neues her: wie wäre es mit Anmachsprüchen?
Na gut, ich kannte nicht einen guten Anmachspruch. Irgendetwas Neues musste her- aber was? Vielleicht sollte ich einfach von meinem Weg zum Erfolg erzählen. Davon, wie es jedem noch so normalen Menschen gelingen konnte, sich hochzuarbeiten und ein wahres Traumleben zu führen. Ja, das war eine gute Idee!
Bis ich ein Video hatte, in dem ich flüssig und locker erzählte und dabei auch noch schön aussah, dauerte es ein bisschen. Doch dafür war ich mit dem Ergebnis umso zufriedener. "Blogger- wie Ihr alle Erfolg haben könnt" taufte ich das neue Video und ich strahlte vor Stolz, als ich es hoch lud.
Ob Luke wohl schon zuhause war und das Video liken würde? Ganz bestimmt! Ein paar Minuten tat sich nichts, aber dann ploppte eine neue Nachricht auf. Das war bestimmt Lukes Like. Nachdem ich auf die Nachricht geklickt hatte und zu meinem Blog weitergeleitet wurde, sah ich erschrocken, dass es sich nicht um ein Like von Luke handelte, sondern um ein Dislike- genauer genommen um zwei Dislikes von einer Mara03 und einem Liveyourlife112.
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Teen FictionVirtuelle Freunde sind toll! Sie loben und bewundern dich, sie sind dir für jede Antwort dankbar und füttern dich mit Selbstbewusstsein. Aber sind sie auch noch da, wenn du gerade mal nicht perfekt gestylt bist? Trösten sie dich, wenn du nicht mehr...