Samstag, 03.07: Karla
Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen kam der Zug zum Stehen und die Türen öffneten sich zischend. Unzählige Leute strömten hinaus und gingen in der Menschenmenge unter. Viele von ihnen schleppten gigantische Rucksäcke oder zogen Koffer hinter sich her.
Nicht weit weg von uns begrüßte ein Mann eine Frau, die eben mit einem großen Koffer den Zug verlassen hatte. Sie strahlte und in ihren blau-türkisen Augen glitzerten Freudentränen. Es war ein schöner Anblick.
Warum war Abschied nehmen bloß so schwer? Ich blickte wieder zu meiner eigenen Familie und mir wurde augenblicklich übel. "Das ist er jetzt aber noch nicht, oder?", fragte meine Mutter nervös.
"Nein Mama, ich nehme doch den Thalys.", erklärte Jona. Auch er war sichtlich gestresst. Immer wieder fuhr er sich durch die Haare und hielt Omas Hand ganz fest. Wir alle waren sehr froh, dass Oma uns begleitete, auch wenn große Menschenmengen, erst Recht an lauten Bahnhöfen definitiv nichts für sie waren. Aber sie wollte sich unbedingt von ihrem Enkel verabschieden.
Niemand von uns sagte etwas. Um uns herum waren nur die typischen Bahnhofsgeräusche zu hören. Züge fuhren ein, und wieder ab, laute Ansagen verkündeten, dass ein Zug Verspätung hatte und Menschen begrüßten und verabschiedeten sich. Es war ein ewiger Kreislauf und am liebsten hätte ich ihn gestoppt, oder zumindest umgedreht.
"Da", Jonas Stimme krächzte, als er den roten Zug mit der Aufschrift Thalys sah, der nun langsam zum Stehen kam. "Noch...noch fünf Minuten.", schluchzte Mama und drückte Jona, an sich. Dieser musste schlucken und kämpfte mit den Tränen.
"Jetzt macht es mir doch nicht so schwer, Mädels!", beschwerte er sich und blickte jedem von uns in die Augen. Auch in meinen glitzerten jetzt schon ein paar einsame Tränchen. "W-wer soll mir denn jetzt bei Französisch helfen?", ich lächelte gequält. Das hatte ich nicht wirklich ernst gemeint.
"Ach, das schaffst du schon. Du bist klüger, als du denkst.", erwiderte er. "Und wer macht uns morgens das beste Omelette der Welt?", piepste Mama. Ihre Stimme klang seltsam erstickt. "Du bist die bist die beste Köchin, die ich kenne Mama.", entgegnete Jona.
"Und wer studiert für uns Geschichte in Paris?", fragte Oma und zwinkerte Jona zu. "Genau, so muss man das sehen", erwiderte er niedergeschlagen, "ich werde Euch alle vermissen. Aber ich komme Euch besuchen, ganz bestimmt. Spätestens zu Weihnachten."
"Weihnachten?", meine Stimme war nicht mehr als ein Piepsen. "Ich...muss jetzt los.", murmelte Jona. "Passt gut auf Euch auf Mädels und zickt nicht zu sehr rum!", rief er uns hinterher und Oma reichte jedem von uns ein Taschentuch. Wie altmodisch.
Mein Bruder drehte sich noch einmal um, dann verschwanden die braunen Locken in den Sitzreihen. Es war das letzte Mal, dass ich sie zu Gesicht bekam.
Der Zug fuhr an und liebend gerne hätte ich die Notbremse gezogen. Die Taschentücher, die meine Oma uns gereicht hatte, flatterten in dem Wind, den das Anfahren des Zuges verursachte. Staub wehte uns entgegen und dann fuhr der rote Blitz in hoher Geschwindigkeit um die Kurve und verschwand irgendwo im Nichts.
Mein Taschentuch flatterte noch einmal kurz, dann hing es schlaff in meiner Hand, wie ein Luftballon, aus dem man die Luft gelassen hatte. Oder wie ein Mädchen, dessen großer Bruder für zwei Jahre in Paris studierte. Meine Uhr piepste laut und ich zog meinen Asthmaspray aus der Tasche. Tief einatmen, Augen zu und durch!
Samstag, 03.07: Ivy
"Nein, nicht das!", es war jetzt schon der dritte Versuch, aber irgendwie fand ich heute echt kein passendes Outfit für mein neues Video. Direkt nach dem Frühstück war ich in mein Zimmer gesaust und hatte in meinem gut gefüllten Kleiderschrank nach einem schönen Outfit gesucht, bisher leider ohne Erfolg.
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Novela JuvenilVirtuelle Freunde sind toll! Sie loben und bewundern dich, sie sind dir für jede Antwort dankbar und füttern dich mit Selbstbewusstsein. Aber sind sie auch noch da, wenn du gerade mal nicht perfekt gestylt bist? Trösten sie dich, wenn du nicht mehr...