Kapitel 28

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Erst am nächsten Morgen verwandelt sich Derek wieder zurück in sein menschliches Selbst.
Die ersten Sonnenstrahlen fallen gerade durch das schmale Fenster und zeigen die Spuren der letzten Nacht. Der Metalltisch wurde durchgebissen und liegt nun seltsam verunstaltet auf dem Beton, der Boden trägt tiefe Kratzer von Wolfskrallen und die Verankerungen der Ketten in der Wand wurden fast komplett aus dem Metall gezogen.
Ich hatte Glück, dass Dereks Ketten gehalten haben, doch ein zweites Mal würde das nicht funktionieren.
„Geht's dir gut?", frage ich und sehe dem Mann in die Augen, der ein weiteres Mal nackt vor mir steht. Langsam wird das zur Gewohnheit.
Zögerlich nickt er. Über seine breite Brust verläuft eine schmale Blutsspur, da er sich an dem zerbissenen Tisch geschnitten hatte. Die Wunde ist zwar schon längst verheilt, doch das Blut ziert nach wie vor seinen perfekten Körper.
„Gut. Mir auch", lüge ich und schlinge zitternd meine Arme um meinen Körper.
Gestern war wie ein Rausch. Ich erinnere mich sehr verschwommen an Stunden, die ich genau an dieser exakten Stelle verbracht habe. Ich konnte ihm nur dabei zusehen, wie er immer und immer wieder versucht hat zu mir zu kommen. Hätte Derek das geschafft, dann wäre ich vermutlich tot, denn wie hätte ich ihn auch aufhalten sollen? Er hatte die Kontrolle verloren und ich weiß nicht, wie verbunden sich seine Wolfsform mit mir gefühlt hätte, doch diese Art der Verbindung wäre nichts für mich. Alleine hätte ich mich allerdings nicht verwandeln können und bei meinem Gefühlschaos hätte sowieso Kali übernommen und wer weiß was getan.
Die Wahrheit ist: Ich habe Angst.
Gestern habe ich gesehen, zu was Derek fähig ist und wie instabil er sein kann. Ein weiteres Mal schaffe ich das nicht. Er wird mich verletzen wenn ich mit ihm schlafe. Ich wünschte es wäre anders, doch ich kann es nun mal nicht ändern. Nicht einmal die Betäubung hat geholfen!
Dereks Blick fällt zur Tür und ich wende mich langsam mit ihm um. Sein Werwolfgehör hat da wohl etwas mitbekommen, das für mich verborgen bleibt.
Keine fünf Sekunden später wird die Tür aufgerissen und ein grinsender Jace tritt herein. In seinen Händen trägt er ein Tablett mit zwei Schüsseln, doch als er das Chaos bemerkt und sein Blick für eine Sekunde auf Dereks unbedeckten Körper fällt, verrutscht ihm das Lächeln.
„Was zur Hölle habt ihr hier denn veranstaltet?", ruft er aus und tritt vorsichtig in den Raum. Ein prüfender Blick aus grünen Augen trifft mich, dann wird mir auch schon das gelbe Plastiktablett in die Hand gedrückt.
„Ich will gar nicht wissen, was ihr beide hier angestellt habt!", bemerkt Jace wie ein enttäuschter Vater und tritt nochmal kurz aus dem Raum, bückt sich und kommt dann mit einem Stapel Kleidung wieder. Genervt wirft er sie dem Wolf zu.
Derek allerdings reagiert gar nicht auf die Kleidung, die seine Brust trifft und dann zu Boden fällt.
„Was ist denn mit dir passiert?", sagt Jace, doch Derek regt sich noch immer nicht.
Ist er etwa eingefroren? Oder habe ich ihn etwa kaputtgemacht?
„Die Betäubung hat nicht funktioniert", erkläre ich leise. Meine Knie zittern und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, doch da ich das Tablett halte, bemühe ich mich um ein wenig Kraft. „Er hat sich verwandelt und wollte- e- er wollte-"
„Schon gut, Isabel", unterbricht Jace mich und kommt wieder zu mir. Ganz sanft nimmt er mir erst das Tablett weg und zwingt mich dann auf einen der Stühle, die das Glück hatten, auf meiner Hälfte zu stehen. Sofort bedanken sich meine Beine bei mir. So schnell werde ich wohl nicht mehr aufstehen. „Iss erstmal was und dann kümmern wir uns um ihn."
Wie benommen nehme ich Jace eine Schüssel ab. Porridge mit frischen Beeren, ich bin wirklich beeindruckt. Ich frühstücke normalerweise nicht und auf jeden Fall nicht so gesund. Zögerlich nehme ich einen Bissen. Es schmeckt erstaunlich gut.
„Derek", sage ich und sehe zu meinem Gefährten. Sein starrer Blick ist auf die Stelle gerichtet, an der ich vor ein paar Minuten noch stand. Ihm geht die letzte Nacht wohl ebenso nach wie mir. „Zieh dir was an und iss das Porridge."
Eigentlich gebe ich keine Befehle und schon gar nicht ihm, doch ohne zu zögern schlüpft Derek in die Kleidung und lässt sich die andere Schüssel geben. Er isst zwar nicht besonders begeistert, aber immerhin nimmt er etwas zu sich.
„Also, was ist passiert?", versucht es Jace nochmal und verschränkt die Arme vor der Brust. Er steht in dem zerstörten Raum zwischen Derek und mir, aber er hat sich ganz auf mich konzentriert.
„Hab ich doch schon gesagt", erwidere ich genervt und nehme den nächsten Löffel zu mir, „Die Betäubung mit Eisenhut hat nicht gewirkt. Er wollte zu mir und durch die Ketten ging das nicht, dann hat er sich verwandelt."
Bei dem Gedanken an letzte Nacht läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich will das nie mehr erleben.
Jace schweigt nur und beobachtet wie ich einen Löffel nach dem anderen zu mir nehme. Ich mag es nicht besonders, wenn man mir beim Essen zusieht. Das macht mich immer so nervös. Dennoch nehme ich es hin.
Als ich das Essen verdrückt habe, nimmt Jace mir wieder sofort die Schüssel ab. „Das war gut", murmle ich, aber ich bekomme kein Lächeln hin. Wieso fühle ich mich auch so leer?
„Ihr verhaltet euch komisch", bemerkt Jace jetzt und schüttelt den Kopf, „Euch fehlt die Energie und dabei soll bei der Sommersonnenwende doch eigentlich das Gegenteil der Fall sein!"
Ist es tatsächlich die Energie, die mir fehlt? Ich denke nicht, dass ein bisschen Schlaf das Problem lösen wird, aber ich bin mir auch nicht so sicher, was ich sonst tun kann. Dereks starrer Blick verunsichert mich, aber auch meine Gefühle scheinen verwirrt zu sein.
„Ich denke, irgendwas hat sich verändert", erwidere ich müde. Erst gestern hat Tess behauptet, dass ich in Derek verliebt wäre, doch heute fühle ich davon nichts mehr.
„Ich verstehe das nicht", sagt Jace. Sein Gesicht legt sich in Falten als er anfängt nachzudenken. Mit schnellen Bewegungen nimmt er nun auch Dereks Schüssel weg und stellt beide auf das Tablett, dieses legt er anschließend auf den Boden. „Jetzt sag schon, was passiert ist, Mann."
Genervt wendet sich mein bester Freund Derek zu. Der Werwolf sieht allerdings noch immer auf die Stelle, an der ich gestanden habe. Er sieht aus wie ein verstörter Hamster.
„Derek", sage ich jetzt auch. Er verhält sich seltsam. „Was ist los?"
Wie in Trance hebt er langsam den Kopf und sieht mit einem leeren Blick zu mir. Seine Augen haben ein seltenes Mittelblau angenommen, das mich sofort an ein Tränenmeer erinnert. Was ist letzte Nacht passiert? Irgendwas hat ihn hart getroffen, das über das Gefühlsmeer der Sommersonnenwende hinwegreicht. Ich will ihn nicht belasten.
„Ich kann es nicht mehr spüren", sagt mein Gefährte dann mit kratziger Stimme. Sein leises Flüstern erreicht gerade so noch meine Ohren und wirft mich vollkommen aus der Bahn. Was kann er nicht mehr spüren? Ich verstehe das alles nicht. Es ist gut, dass er noch auf mich reagiert, doch ich mache mir Sorgen um ihn. Er scheint in seiner eigenen kleinen Welt gefangen zu sein und das belastet mich mehr als es vermutlich sollte.
Langsam wendet sich Jace wieder mir zu und überwindet den Abstand zwischen uns. Sanft umfasst er meine Hände mit seinen und zwingt mich dazu, mich zu erheben. Wackelig stehe ich vor ihm und kralle mich in seinen Körper. Ich will wirklich nicht gleich auf dem Boden liegen.
Nervös sehe ich zu Jace hoch. Ich bin es gewohnt, dass wir uns nah sind, doch nun bringt mich diese Nähe fast um. Alles daran verwirrt mich. Umso länger ich bei ihm bin, desto mehr zittert mein Körper. Die Erschöpfung holt mich ein, doch mein Körper ist bis auf den letzten Muskel angespannt. Ich will hier weg. Wieso? Wieso kann ich Jace nicht mehr so nahe sein? Ich verstehe das alles nicht.
Was passiert hier?!
„Vertrau mir", sagt Jace nun und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, doch es erreicht nicht seine Augen. Außerdem hat er seine Kiefer fest zusammengepresst.
„Jace, was-", setze ich an, doch sein eindringlicher Blick unterbricht mich. Ich soll ihm also blind vertrauen. Unter normalen Umständen hätte ich auch absolut kein Problem damit, aber heute Morgen kann ich das einfach nicht. Allein schon so nah vor ihm zu stehen verlangt mir alles ab.
„Gut", murmelt er, doch er scheint es mehr zu sich selbst zu sagen. Sein Adamsapfel hüpft beim Schlucken, dann tritt ein erstaunlich entschlossener Glanz in seine Augen. Was wird das nur?
Sanft aber bestimmt umfasst er im nächsten Moment mein Gesicht und zieht mich näher zu sich. Will er-? Nein, das ist Jace, er würde mich doch nie einfach so küssen. Und erstrecht nicht vor Derek!
Doch schon im nächsten Moment liegen seine weichen Lippen auf meinen. Wie versteinert bleibe ich stehen. Passiert das gerade wirklich?
Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, doch gleichzeitig zieht mein Körper mich weg. Kurz bewegt Jace seine Lippen, dann ist es auch schon vorbei.
Erleichtert blinzle ich meinen besten Freund an, doch dessen Aufmerksamkeit liegt auf Derek. Mein Gefährte hat sich nach wie vor nicht bewegt und scheint auch nichts von dem Kuss mitbekommen zu haben. Oder es ist ihm egal.
Bin ich ihm egal? Und wieso tut der Gedanke so verdammt weh? Ein dumpfes Gewicht legt sich auf meinen Brustkorb und nimmt mir ganz langsam die Luft zum Atmen.
„Wieso rastet er nicht aus?", flüstere ich und schließe langsam die Augen. Ich will diesen trostlosen Ausdruck nicht mehr sehen. Diese ständige Eifersucht hat mich zwar fertig gemacht, aber Gleichgültigkeit ist um einiges schlimmer!
Ein trauriges Lächeln breitet sich langsam auf Jace' Lippen aus. Seine Hände umfassen noch immer mein Gesicht und nun streichelt er sanft mit seinem Daumen über meine Wange. „Ich denke, ihr seid keine Gefährten mehr."

Notorious Mate [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt