Wie bereits erwartet nimmt meine Mutter die Neuigkeiten eher weniger gut auf. Ich erzähle ihr von Dereks unkontrollierten Verwandlungen und meinem eigenen Alter Ego, das mir manchmal die Kontrolle entreißt. Auch berichte ich über die Nacht der Sommersonnenwende, aber ich stelle alles etwas freundlicher dar, als es tatsächlich geschehen ist. Sie kann sich bestimmt auch so denken, dass eine rein animalische Kreatur mehr als schrecklich ist. Sie selbst ist schließlich auch ein Wolf.
Ich ende mit unseren Bissen und sehe dann nervös zu ihr, denn seitdem ich begonnen habe von dem Keller zu berichten, habe ich mich nicht mehr getraut sie anzusehen. Zu viel Angst habe ich vor ihrer Reaktion. Ich bin vermutlich kein guter Mensch, aber ich will meiner Mutter wirklich nicht meine Sorgen aufbürden. Aus diesem Grund melde ich mich auch eher selten bei ihr. Mein Leben ist sicherlich eine einzige Belastung für sie, schließlich bin ich das Kind meines Vaters. Sie durch meine Anwesenheit nicht an ihn zu erinnern ist fast unmöglich.
Auf ihrem Gesicht hat sich ein ernster Blick gebildet und tiefe Furchen zeichnen sich auf ihrer Stirn ab, doch am meisten fürchte ich den verkniffenen Zug um ihren Mund. Das bedeutet nichts Gutes.
„Du hättest diese Kette niemals abnehmen dürfen", murmelt sie, doch ich kann sie dennoch hören. Sie klingt so verbittert und schwach, ganz anders als die starke selbstbewusste Frau, die ich immer bewundert habe.
„Welche Kette?", frage ich sanft und greife nach ihren Hände, doch sie zieht sie schnell zurück. Überrascht sehe ich ein paar Sekunden nur meinen Handrücken an, dann senke ich meine Arme langsam wieder.
Das war... seltsam.
„Das Erbstück", sagt sie jetzt und steht schnell auf.
Durch ihre ruckartige Bewegung verwirrt sehe ich mich kurz nach Tess um, die mindestens so verwirrt wirkt wie ich.
„Wie hätte die Kette mir denn geholfen?", frage ich und stehe ebenfalls auf. Meine Muskeln protestieren, doch ich schiebe den Schmerz beiseite. Endlich kann ich Antworten auf all meine Fragen finden, zumindest sagt mir mein Unterbewusstsein das. Meine Mutter verbirgt etwas und es ist Zeit diese Geheimnisse endlich zu erfahren! „Mom, was verschweigst du mir?"
„Ach, Schätzchen. Ich denke nicht, dass wir das jetzt besprechen sollten."
Wie bitte?! Wann sollen wir denn sonst reden? Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren sehe ich sie wieder und sie kann mir einfach nicht mehr ausweichen, aber sie will mir auch keine Antworten geben.
„Mama, wenn du etwas weißt, dann wäre es gut, wenn du es mir einfach sagst. Im Moment könnte jederzeit dieses andere Ich übernehmen und allen in meiner Nähe schaden. Ich muss einfach ein paar Antworten auf meine Fragen bekommen!", erwidere ich heftig und suche in ihrem Gesicht nach einer Regung, doch ihre Mine bleibt maskenhaft und leer. Plötzlich sieht sie gar nicht mehr aus wie die lebensfrohe Frau, die mich großgezogen und durch den Park gejagt hat als wir Fangen gespielt haben.
„Hilf mir zuerst mit der Kette", sagt sie und hält meinen Blick.
Geschlagen gehe ich voraus in mein Zimmer und ich bin mir sicher, dass sie mir folgt. Zielstrebig gehe ich an mein Bücherregal und ziehe meine Ausgabe von „Stolz und Vorurteil" hervor. Vor einer halben Ewigkeit habe ich meine Kette in dieses Buch gepackt, da ich kein Lesezeichen zur Hand hatte und dann habe ich nie weitergelesen.
Zuerst will ich meiner Mutter die goldene Kette mit dem kleinen Anhänger geben, doch sie steht noch immer an der Tür und beobachtet mich. Mit einer kleinen Handbewegung zeigt sie mir an, dass ich sie mir umlegen soll. Ich fühle mich seltsam dabei, doch für Antworten ist das wohl ein geringer Preis.
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Notorious Mate [Pausiert]
LobisomemIsabel lebt unter Werwölfen. Ihre Eltern sind Werwölfe, ihre Mitschüler sind Werwölfe und die gesamte Stadt besteht aus Werwölfen, aber dennoch ist sie ein Mensch. Jeden Tag wird sie verletzt und beleidigt, da sie eine Schande für die Gestaltwandler...