Kapitel 10

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Alles verschwimmt. Die Tage vergehen und ich gehe so mit. Wie jemand, der von der Strömung mitgerissen wird, ohne sich zu wehren.

Mechanisch nehme ich die Teller und balanciere sie teilweise auf meinen Unterarmen. Mittlerweile bin ich ziemlich gut darin. Ab und zu geht die Küchentür auf und jemand tritt raus. Jedes Mal stolpert mein Herz, als lägen Stolpersteine auf seinem Weg.

Seit er hier ist, halte ich mich so gut es geht von der Küche fern. Aber manchmal laufe ich ihm dennoch über den Weg. Immer dann setzt mein Herz aus, als wäre es am Ziel angekommen.

Um mich abzulenken versuche ich an die Veranstaltung bei Sebastians Eltern zu denken. Ich sollte aufgeregt sein. Er stellt mich da bestimmt seinen Eltern vor. Sind wir eigentlich zusammen? Bestimmt. Doch meine Aufregung hält sich sehr in Grenzen. Es fühlt sich jetzt schon so an, wie jeder andere Abend auch.

Gabi wirft mir ab und zu wissende Blicke von der Bar aus zu. Jaja. Thomas, der Traumtyp hat mich im Auto mitgenommen. Erleichtert atme ich auf, als meine Schicht sich dem Ende neigt.

Hastig, so schnell ich kann suche ich meine Sachen zusammen und mache mich aus dem Staub. Das gelingt mir allerdings nicht so gut, wie ich wollte. Eine Stimme hält mich fest. "Darf ich dich heute mitnehmen, Lion?"

Ich denke nicht daran mich umzudrehen. Wortlos gehe ich weiter. "Willst du mich jetzt dein Leben lang hassen?" Wütend drehe ich mich doch um. "Wenn einer es verdient gehasst zu werden, dann du!", fauche ich.

Stürmisch laufe ich fort. Plötzlich werde ich von hinten eingeholt und an die Wand gedrückt, nicht besonders fest, aber genug, um mich zu erschrecken. Vor mir steht niemand anderes als Thomas. Was auch immer sein Problem ist.

"Lion, ewiger Groll ist mehr als nur kindisch." Muss er gerade sagen. "Ich darf auf dich sauer sein", kontere ich. Thomas lässt von mir ab. "Ja, das darfst du. Ich habe dich verletzt, ich weiß." Augenblicklich schneide ich ihm das Wort ab. "Du weißt gar nichts!" Ich überlege, ob ich ihm eine reinhauen, oder ob ich einfach nur weggehen soll.

Meine Entscheidung fällt auf Zweiteres. Aber wegen ihm komme ich nicht weit. "Können wir uns irgendwann mal unterhalten. Wie Erwachsene." Dass er ständig diese Karte ausspielt ist wie ein Stich in mein Herz. Mir ist klar, dass er älter und reifer ist, das muss er mir nicht immer wieder ins Gedächtnis rufen. Älter und reifer, aber zu feige, um zu seinen Gefühlen in der Vergangenheit zu stehen.

Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort. Die Antwort lautet: Nein. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell wische ich diese beiseite. Wie Erwachsene reden. Als ob er sich immer so erwachsen benimmt. Jemanden Stunden lang warten zu lassen, sein Handy auszuschalten, um nicht angerufen werden zu können, ist keines Wegs erwachsen. Es ist einfach nur feige. Feige und gemein.

Den ganzen Weg lang kämpfe ich mit mir, mich ja nicht umzudrehen. Auch, wenn ich ihn jetzt nicht mehr sehen kann, selbst wenn ich mich umdrehen würde, will ich zurücksehen. Erfolgreich verbiete ich es mir. Ich will nicht nach Hause. Das wird mir so richtig klar, als ich in meine Straße ei biege. Ich bin den ganzen Weg gelaufen. Eine gute Dreiviertelstunde, aber in die Wohnung möchte ich immer noch nicht.

Auf der Stelle mache ich kehrt. Egal wohin, Hauptsache irgendwohin. Nach einer halben Stunde lande ich bei einem beliebigen Eiscafé. Wie ferngesteuert gehe ich hinein. Ein Eisbecher mit Nuss und Karamell wäre gerade das Beste.

Einsam, aber glücklich löffle ich mein Eis. Glücklich, über die zufriedenstellende Menge an Karamell im Becher. Von ein paar ernte ich komische Blicke, weil ich alleine bin. Doch ich ignoriere die Menschen um mich herum. Es ist besser in seiner Einsamkeit allein zu sein, als in Gesellschaft einsam zu sein.

Ein Blick auf mein Handy und ich zucke zusammen. Sebastian hat mich vier Mal versucht anzurufen. Wahrscheinlich wegen Samstag. Der glorreiche Tag. Seufzend packe ich das Telefon wieder weg. Die gemäßigte Freude auf Samstag ist mir nun gänzlich vertrieben worden.

Sebastian. Ein lieber, netter und hilfsbereiter junger Mann. Macht ein ganz gutes Studium. Hat bestimmt gute und liebevolle Eltern. Er kleidet sich gut. Er ist ganz gut im Bett. Bei diesem Gedanken zieht sich etwas in mir zusammen. Sebastian. Ein Junge, den ich lieben sollte.

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