Kapitel 34

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Der Latte macchiato dampft noch. Doch aus meinem Mund kommen ohne Punkt und Komma lauter Wörter. Keine Zeit sich dem Getränkt zu widmen. Sophie fragt nach allem, ebenfalls ohne Punkt und Komma. Es freut mich sehr, dass sie so gut damit klarkommt.

Das Wort Stieftochter hat sie mir verboten, wie ich ihr das Wort Stiefvater. Ihr Vater ist Thomas und ich bin sein Freund, fertig. Sie kennt meinen Steckbrief. Sie weiß persönlichere Geschichten von mir, aber es macht ihr Spaß weiter nachzufragen.

Die Zeit rennt und wir kommen nicht hinterher. Es bleibt nicht genug Zeit, um alles zu sagen, um nach allem zu fragen. Umarmend verabschieden wir uns voneinander. Glücklich bleibe ich zurück, als sie in den Bus steigt.

Zu Hause herrscht eine weniger fröhliche Stimmung. Aus Tils Schlafzimmer ertöhnen im regelmäßigem Abstand laute Schreie, Rufe und Beleidigungen. Er streitet sich darin heftig mit jemanden, mit wem bleibt unklar. Da man so ein Wortgefecht ungern stört, verkriechen ich mich in mein Zimmer.

Das Geschrei wird mal lauter, mal leiser. Dreißig Minuten, vierzig. Verstehen kann man kein Wort. Es ist einfach nur laut. Doch das find ich gut. Es wäre komisch, seine privaten Streitereien zu belauschen, wenn auch unausweichlich.

Mein Blick huscht durchs Zimmer. Weil ich nichts besseres zu tun habe, beginne ich meine Klamotten zu sortieren. Dreckig nach rechts, noch sauber nach links. Danach wird staubgewischt. Meine passende Musik dazu: die aggressiven Stimmen vom Zimmer nebenan.

Mittlerweile glänzt jede Ecke des Zimmers. Ich sitze nutzlos auf meinem Schreibtischstuhl. Es gibt so viel, was man jetzt machen könnte. Lernen für den nächsten Test, das Bad putzen, Netflix schauen, vielleicht sogar ein Buch lesen, aber zu nichts habe ich Lust, genauso wenig wie ich Lust auf Langeweile habe.

Ich horche auf. Nichts. Plötzliche Unruhe steigt in mir auf. Die Stimmen, das Geschrei, die Schimpfwörter. Nichts. Alles ist verstummt. Kein Ton erreicht mehr meine Ohren. Irgendwie macht mich das viel nervöser, wie die Streitereien.

Vorsichtig, wie ein Fuchs, schleiche ich aus meinem Zimmer. Til lehnt an der Küchenzeile. Sein Blick starr auf den Boden gerichtet. Meine Kehle trocknet aus. Was soll ich sagen? Soll ich überhaupt was sagen, oder ist Schweigen in dem Fall besser? Er steht einfach nur da.

Seine Augen kämpfen mit Tränen, das ist deutlich zu sehen. Aber er weint nicht, als würde er es sich nicht erlauben. Wer war dieser mysteriöse Mann, dessen Namen man nicht kennt, den man nie zuvor gesehen hat. Aus der Trance erwacht, huscht sein Blick zu mir. Seine Augen funkeln mich gehetzt an. Wortlos rennt er an mir vorbei in sein Zimmer. Die Tür fällt lautstark ins Schloss. Ich zucke zusammen.

Unzählbare Mengen an Fragen wirbeln in meinem Kopf. Keine wird gestellt. Keine wird beantwortet. Zurück in meinem Zimmer, nehme ich den Laptop und starte einen Film auf Netflix. Dieser lenkt zwar nur schwerfällig ab, aber immerhin etwas.

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Er sieht verboten gut aus, in diesem schwarzen Hemd und der dunkelblauen Jeans. Seine Hände geschlungen um meine, zieht er mich in die Läden mit. Thomas wollte etwas für Sophie besorgen, worum sie ihn gebeten hat. Und noch irgendwas für Lucy, seine Exfrau. Ihr Mann wird nächste Woche, denke ich, operiert, weswegen er aus Höflichkeit einen Gruß-, oder Glückwunsch-du-hast-es-überstanden-Korb zusammenstellt.

Er hat mein Respekt. Seine Exfrau hat ihn damals betrogen, dennoch spricht er heute mit ihr, wie mit einer alten Bekannten. Bestimmt nur wegen Sophie, aber trotzdem Respekt. Ich helfe ihm bei der Entscheidung ob Himbeer-, oder Erdbeermarmelade.

Nach den Einkäufen, setzen wir uns an die sonnenbeschiene Promenade, essen Eis und reden. Es ist alltäglich. Eine Aktivität, die ich schon tausendmal in meinem Leben erlebt habe. Beinahe langweilig, wenn man das erzählt. Ich langweile mich nicht. Nicht eine Sekunde. Thomas macht Eisessen an der Promenade und Einkaufen gehen für die Tochter und Exfrau spannend.

Die Art, wie seine Krähenfüße an den Augen hervortreten, wenn er lächelt. Wie er über sonst uninteressante Dinge spricht. Thomas ist die Person für mich mit der selbst stumm dasitzen aufregend ist. Egal, wie abgedroschen das klingen mag.

Der Abend ist kühl, also steht Fernsehen an. Sophie verschwindet mit der Tüte im Bad, sobald ihr Vater sie übergibt. Ich konnte nicht sehen, was darin ist. Zu der Zeit war ich bei den Deodoranten. Den ganzen Film lang ist Sophie nervös. Thomas ebenfalls. Ich kann nicht entspannen. Der Film ist eh mittelmäßig. Ein mittelmäßiger Film braucht die Aufmerksamkeit drei angespannter Personen nicht.

Anspannung im ganzen Haus. Keiner traut sich zu fragen. Ich fühle mich einen Tag in die Vergangenheit versetzt. Aber nein. Ich grüble lieber über den Inhalt der Tüte nach, als über Tils Streitereien. Vor meinem inneren Auge bildet sich der ganze Drogeriemarkt ab. Was könnte darin sein, was Menschen nervös macht? Die Antwort liegt auf der Hand. Ich denke den Gedanken nicht zu Ende. Sondern sehe den Film wieder.

Die Anspannung bleibt den ganzen Abend bestehen, aber ich ignoriere sie einfach. Als ich Abends Thomas frage, was sei, winkt er ab. Nichts. Es sei alles gut. Glauben erreicht er mit dieser Art Antwort nicht, aber ich lasse die Sache dennoch stehen.

Neben ihm schlafe ich ein, in seinen Armen eingekuschelt. Zufrieden und sicher. Daran kann man sich gewöhnen. Jede Nacht am liebsten neu. Bei ihm einschlafen. Nie mehr in Begleitung von Netflix und allein mit meinen Gedanken, sondern behütet in den Armen des Mannes, den ich liebe.

"Ich liebe dich", flüstere ich, bevor sich meine Augen schließen. Er drückt meine Hand. Was heißt: Ich dich auch.

I am his. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt