Kapitel 19

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Wütend gehe ich auf ihn zu. Wie kann er so etwas sagen? "Ich bin gemein? Ich bin kindisch?" Meine Stimme landet drei Oktaven höher. Erstaunt sieht er mich an. "Du bist hier der Gemeine."

"Ich würde mit dir reden." Denkt er im Ernst, dass er hier das Unschuldslamm ist? "Und worüber willst du reden? Darüber, dass es dir leidtut, mich damals die ganze Nacht lang warten gelassen zu haben? Oder willst du darüber sprechen, dass ich dir das bis jetzt immer noch nicht verzeihen kann?" Sein Blick ist ausdruckslos.

Reue tritt in seine Augen. "Du hast nicht die ganze Nacht gewartet. Ich war auch mal in diesem Alter. Du bist nach spätestens einer halben Stunde gegangen." Ist es das, was er sich einredet, damit es ihm besser geht? "Dann hoffe ich, dass du mit siebzehn niemanden abbekommen hast, denn der oder die tut mir leid."

Seine Augen funkeln wässrig. "Die ganze Nacht, doch du bist nicht gekommen. Warum bist du nicht gekommen?" Meine Stimme bricht. Diese Frage steht zwischen uns. Seit vier Jahren ist sie die Mauer, die uns trennt, sowie mein Schmerz.

Die Spannung in diesem Raum ist kaum mehr auszuhalten. Wortlos verlasse ich das Restaurant. Hastig renne ich den Weg nach Hause, da kein Bus mehr fährt. Anstatt zu weinen, verspüre ich den Drang jemanden oder etwas zu schlagen.

Sauer drehe ich um. Anstatt nach Hause zu gehen, verschwinde ich in irgendeiner Bar, um das gerade so schnell wie möglich zu vergessen.

Benommen sitze ich vor meinem dritten Glas. Mein Verstand teilt mir ununterbrochen mit, dass ich besser nach Hause gehen sollte. Doch ich bleibe sitzen. Die Wohnung kann ich im Moment nicht ertragen. Dort würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen.

Im Kopf wiederholt sich die Szene ständig vom Neuen. Er kann es wohl einfach nicht lassen. Jedes Mal, jedes verdammte mal, wenn ich ihn sehe, muss er versuchen zu mir Kontakt aufzubauen. Dieses Thema auf sich beruhen zu lassen, kann er anscheinend nicht.

Aber das dümmste an der Sache ist, mein höher schlagender Puls in seiner Nähe, die Aufregung, wenn er mich in den Wahnsinn treibt, schon die Tatsache allein, dass ich mich überhaupt noch mit dieser ganzen Scheiße beschäftige. Es sollte mir egal sein. Ist es mir aber nicht.

In einem Zug leere ich mein drittes Glas und bestelle mir sogleich darauf ein viertes. Die Erinnerungen sollen schneller verschwinden. Von manchen werde ich langsam komisch angeschaut, weil ich hier allein sitze und mich betrunken, sowie der alter Oper neben mir. Es gibt einen Unterschied zwischen ihm und mir: In seinem Alter ist das normal, in meinem komisch. Mit der allergrößten Ignoranz wird auch das vierte Glas geleert.

Eine weitere Stunde vergeht. Alles dreht sich. Mein Gehirn arbeitet eine ganze Ecke langsamer. Laufen fällt schwer. Wie ein einbeiniger Pfau torkel ich aus der Bar. Draußen ist es kalt und nass. Es hat vor einer guten halben Stunde angefangen zu regnen. Nach meiner Handyuhr ist es zehn nach drei Uhr morgens.

Ich benötige volle fünf Minuten einen Taxiservice anzurufen. Als die Frau am Telefon nach meiner Adresse fragt, nenne ich ihr automatisch seine. Zwanzig Minuten friere ich in der Kälte der Nacht, dann kommt das Taxi endlich. Der Taxifahrer kommt mir jede Minute etwas mehr suspekt vor. Aus Angst mache ich meine dünne Jeansjacke zu, als ob ich etwas darunter hätte.

Erleichtert stehe ich vor dem Haus. Aber anders, als in meinem Traum stürzt es nicht auf mich. Es sieht so friedlich aus, schlafend in der Nacht. Es tut mir beinahe schon leid die Klingel zu betätigen. Es dauert eine Weile, aber schließlich öffnet er mir die Tür. Ohne eine weitere Sekunde zum Nachdenken zu verschwenden, falle ich ihm um den Hals und küsse ihn. Eintausend kleine Kribbelmücken breiten sich augenblicklich in meinem ganzen Körper aus.

Diese Lippen hatte ich so sehr vermisst. Als ich mich wieder von ihm löse, sieht er mich fragend an. Doch seine Fragen, seine Entschuldigungen, seine Reue, seine Herzlosigkeit sind gerade nicht das, was ich brauche. Ich brauche ihn, jetzt auf der Stelle. Mit einem leisen Knall geht die Eingangstür ins Schloss.

"Schlafzimmer", sage ich leise und abgehackt. Mit klopfendem Herzen gehe ich vor. Skeptisch folgt er mir. Hastig ziehe ich meine Jacke, sowie mein Shirt aus. Thomas sieht so aus, als wolle er mich davon abhalten. Aber ich lasse es nicht dazu kommen. Gierig öffne ich seine Hose, mit einem flehendem Blick unterstrichen.

Sein Blick ist eine Mischung aus liebevoll und verwirrt. Sanft nimmt er mein Gesicht in seine Hände. "Lion, du bist betrunken." Seine Stimme warm, sein Griff elektrisierend. "Bitte, Thomas." Mein Herzschlag setzt aus, abwartend auf seine Reaktion. Langsam kommt er näher. Seine Lippen landen behutsam auf meinen. Dann fester, bestimmter.

Nervös zupfe ich an seinem Hemd, welches er sich dann über den Kopf zieht. Er drückt mich dirigierend aufs Bett. Meine Hand wandert in seinen Nacken, während er mir meine Hose von den Beinen streicht. Seine Haut glüht, genauso, wie sich mein inneres anfühlt. Einen längeren Moment kann ich nicht anders, wie zu starren. Ihn so gesehen, habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr. Seine breiten Schultern, diese ausgeprägten Adern auf seinem Unterarm, sein männliches Gesicht untermalt von seinem maskulinen Körper. Er ist einfach wunderschön. Mit dem gleichen gierigen Blick kommt er auf mich zu.

Seine Lippen auf meiner Haut, ein Feuerwerk durch meinen Körper. Wie sehr ich das vermisst habe. Jede seiner Berührungen löst etwas in mir aus. Mein Herz klopft so fest und laut gegen meinen Brustkorb. Beinahe habe ich Angst, er würde zerspringen. Thomas sieht mich an, küsst mich auf den Mund, bevor er  in mich eindringt. In diesem Moment fügt sich alles zusammen.

Ich kralle mich in seinem starken Rücken fest, wie schon so oft. Sein Stöhnen bei jedem Stoß in meiner Halabeuge, klingt wie Musik in meinen Ohren. Eine lang vermisste Melodie. Thomas wird immer schneller und fester, beinahe verzweifelt. Ich bewege meine Hüfte mit, sodass wir im Einklang sind. Am liebsten würde ich laut schreien vor Erleichterung. Nichts schnürt mir die Kehle zu. Es ist als würde ich mich befreien. Ich lasse mich einfach  fallen, egal wie tief. Das habe ich so sehr vermisst. So erfüllen, so ein Gefühl in mir aufsteigen lassen, kann nur er.

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