Kapitel 36

682 18 1
                                    

Schwer schnaufend hebe ich den nächsten Karton, der noch auf meinem Bett steht. Es ist merkwürdig, zu sehen, dass dein gesamtes Leben in ein paar wenige Kisten passt.

Ich gehe noch einmal durch die ganze Wohnung, nachdem ich Thomas den Karton ausgehändigt habe, um zu überprüfen, ob ich auch alles eingepackt habe. Til versichert mir im Minutentakt, dass ich alles habe, darauf verlasse ich mich aber nicht.

Er freut sich für mich, auch wenn er alle zehn Sekunden zur Kenntnis gibt, wie sehr ich ihm fehlen werde. Zum Abschied erdrückt er mich. Auch als ich Atemnot anmelde, lässt er nicht locker. "Bau bitte ein bisschen mehr Scheiß", flüstert er in meine Ohren. Ich muss grinsen.

"Bau mir ein bisschen weniger Scheiß", kontere ich scherzhaft. Er verzieht das Gesicht zu einer spitzbübischen Grimasse. "Ich versuchs." Schwermütig steige ich ins Auto. Knapp drei Jahre habe ich hier gewohnt. Seltsam, plötzlich, von einem auf den anderen Tag, woanders zu leben.

Er startet den Motor. Thomas schenkt mir ein freundliches Lächeln, bevor wir losfahren. Die Häuser ziehen an mir vorbei. Verschwimmen in einander, bilden somit neue Perspektiven. Ich wende meinen Blick ab. Lasse ihn durch den Wagen gleiten. Sehe auf die Uhr, dann wieder nach draußen, wo die Parkanlagen vorbeiziehen.

Bei Thomas zu Hause erwache ich wieder aus meinen Träumereien. Alles spielt sich reibungslos ab. Ausgepackt wird zügig und geordnet. Sophie hilft bereitwillig, somit stehen in wenigen Minuten all meine Kartons erst einmal im Wohnzimmer. Ich komme mir vor, wie in einem Film. Gesprungen von einer Szene zur anderen, innerhalb weniger Minuten. Vom Wiederanfreunden zum Zusammenziehen. Doch zugleich fühlt es sich so an, als wären Jahre vergangen. Zuviel auf einmal.

Erschöpft lasse ich mich auf die Couch fallen. Thomas hinterher. Sophie in der Küche. Sie wart ihren Sicherheitsabstand penibel zu mir. Schon seit Tagen geht sie mir aus dem Weg, sowie Thomas. Aber ihn scheint es nichts auszumachen, als wüsste er, woran es liegt. Es macht mich wahnsinnig ahnungslos zu sein.

Auf sein Nachttisch kommen ein, zwei Bilder dazu. Die Hälfte vom Kleiderschrank wird eingenommen. Meine Deko platziere ich bedacht. Innerhalb eines kurzen Nachmittags ist aus seinem, unser beider Schlafzimmer geworden.

Vorsichtig schleiche ich mich in Sophies Zimmer. Dort bin ich nur ein einziges Mal gewesen. Meine Erinnerung ist getrübt. Keine Ahnung, weswegen ich mal hier gewesen bin, aber an dieses Bett, diese Kommode, diese Vorhänge kommt mir bekannt vor. Sie liegt auf ihrem Bett. Hört Musik. Sie bemerkt mich nicht. Eine ganze Weile bleibe ich an der Tür.

"Hey". Erschrocken sehe ich zu ihr. "Hi", antworte ich verspätet. "Schon ausgepackt?" Sie sieht nach wie vor starr auf ihr Handy. Sie hält es deutlich erkennbar zu fest in der Hand, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten. Ihr Kiefer angespannt. Wer auch immer, spielt eindeutig gerade mit ihren Nerven.

"Ja, also das Meiste." Zustimmendes Brummen. Hektisches Tippen auf dem Smartphone. Danach sieht sie ausnahmsweise zu mir. "Wirst dich bestimmt gut einleben." Auf ihrem Gesicht bildet sich ein ehrliches Lächeln. "Bestimmt", erwidere ich leise.

Ja, das werde ich mit Sicherheit. Hier zusammen mit Thomas. "Alles okay?" Für den Bruchteil einer Sekunde bröckelt ihre Fassade, dennoch lächelt sie weiter. "Natürlich." Sie flüstert das Wort ungewollt leise. Beinahe erreicht es mich nicht. Sie ist alles, nur nicht okay. Man kann es ihr deutlich ansehen. Irgendetwas beschäftigt ihr Gemüt.

Mutig durchquere ich den Raum, setze mich auf ihr Bett neben sie. "Was ist eigentlich los mit dir?" Eine Dünne Mauer baut sich zwischen uns auf. Nicht sichtbar, aber da, deutlich zu spüren. Man braucht einen Vorschlaghammer, um diese zu durchbrechen. "Nichts." Erneut dieses ungewollte Flüstern. "Sophie?" Sie richtet sich auf. Energisch, beinahe bedrohlich erwidert sie: "Lion, nein. Ich werde mit dir nicht über so etwas reden." Es ist endgültig.

Ich gebe mich geschlagen. Vorerst. Seufzend verlasse ich das Zimmer. "Kannst immer mit mir reden", werfe ich ihr entgegen, bevor die Tür schließt. Im Schlafzimmer sitzt Thomas auf dem Bett und liest in einer Zeitschrift, die ich mitgebracht habe. Genau genommen ist es eine ältere Ausgabe des Spiegels. Ich habe sie irgendwann mal auf einem Flohmarkt mit meiner Mutter zusammen für zwanzig Cent ersteigert. Habe nur einmal darin gelesen.

Konzentriert verschlingt er Zeile für Zeile, Wort für Wort. Ich setze mich neben ihn. Er liest konzentriert weiter. Ich nehme seine rechte Hand in meine. Er drückt einmal kurz zu, ohne den Blick von der Zeitschrift zu nehmen. Mein Kopf auf seinen Schultern. Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus. Bereit ein neues Kapitel aufzuschlagen.


I am his. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt