Kapitel 35

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Der Nachbar zupft Unkraut. Der Nachbar zupft Unkraut auf Mamas Grundstück. In der Einfahrt. Sie, neben ihm, die gleiche Arbeit verrichtend. Auch aus dem Auto heraus sind ihre gegenseitig verliebten Blicke, die sie permanent austauschen, zu sehen.

Ich parke den Wagen zwei Meter entfernt. Mama steht auf und umarmt mich sofort. Ich habe ihr ja so gefehlt. Freundlich reiche ich dem Nachbarn die Hand. Dieser lächelt mich freundlichst an. Das Arbeiten ist hiermit beendet. Drinnen wird ein Streuselkuchen aufgetischt mit heißem Kaffee und Milch.

Stolz berichtet Mama von ihrer erfolgreichen Ernte des Gemüsebeets und ihren langsam werdenden Arbeiten wegen dem Unkraut. Brav aufmerksam, wie ein Schulking, lausche ich ihrer Stimme. Der Nachbar isst schweigend sein Stück Kuchen. Ab und zu schenkt er mir ein nettes Lächeln, ansonsten bleibt er teilnahmslos.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, fragt sie nach Sebastian. Ich verschlucke mich am Kaffee. Sie lächelt. Verständnisvoll. Als würde sie die Antwort schon kennen, geht sie zu den Zeit raubenden Tomaten über. Auf einmal ergibt der Geheimnisvolle Satz nach unserem letzten Besuch einen Sinn. Ich habe es nicht verstanden, doch jetzt wird mir die Bedeutung um so bewusster.

Du bist jung, dir steht alles offen. Es muss nicht immer alles für die Ewigkeit sein, solange es für diesen Moment gut ist, reicht's. Als hätte sie es gewusst, dass Sebastian und ich keine Zukunft haben. Einen Moment überlege ich, ob sie in die Zukunft sehen kann. Nein. Sie kennt mich einfach nur zu gut.

Der Nachbar geht nach Hause. Wir erledigen den Abwasch. Meine Mutter wäscht das Geschirr, ich trockne ab. "Woran ist es denn gescheitert?" Aus dem Nichts rollt sie dieses Thema wieder auf. Es ist ungewohnt, so durchschaut zu werden. "An Thomas", antworte ich kleinlaut. Ein Fragezeichen in ihrem Gesicht.

Der Abwasch wird gleichzeitig mit meiner Erklärung fertig. Mama hört aufmerksam zu, versucht verständnisvoll zu sein, aber dennoch wird sichtbar, dass sie die Tatsache, ihr siebzehnjähriger Sohn traf sich mit einem erwachsenen Mann mittleren Alters missbilligt. Ebenso die Tatsache, dass ihr zweiundzwanzigjähriger Sohn mit einem vierundvierzigjährigen zusammen ist. Genauso ist es ihr unangenehm, wie ich mich gegenüber Sebastian verhalten habe, versteht es jedoch.

Am Ende ist das Geschirr sauber und ich außer Atem. Aufgeregt schlägt mein Herz gegen den Brustkorb. "Ich will diesen Mann kennenlernen." Beinahe muss ich lachen. "Klar." Jede Frage von ihr wird von mir mit der größten Bereitschaft beantwortet.

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Meinen Vater habe ich nicht, wie versprochen, angerufen. Es ging einfach in allem unter. Zugegeben, es tangiert mich auch nicht sonderlich. Mama lies mir dafür natürlich die Leviten. Wie sehr wünscht sie sich ein gutes Vater-Sohn-Verhältnis. Wie wenig wünsche ich mir ein gutes Verhältnis mit meinem Vater. Es ist mir egal.

Ich war vier Jahre alt, da habe ich mal meinen Vater mit einem fremden Mann verwechselt. Es war im Einkaufscenter an der Kasse. Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich habe mich mit diesem Fremden verbundener gefühlt, wie mit meinem Vater mein ganzes Leben lang.

Sophie sieht mich traurig an, als ich ihr das erzähle auf ihre Frage hin. Für sie war ihr Vater immer, und ist es noch, der größte Held. Ergibt auch sinn. Thomas ist ein wirklich guter Vater. Geistesabwesend streicht sie über ihren Bauch. Sie denkt über meine Worte nach. Ich denke über ihren Bauch nach.

Darüber, warum sie ihn so zärtlich streichelt und ob das etwas mit dem Inhalt der mysteriösen Tüte zutun haben könnte. Gesprochen wird darüber nicht. Stattdessen mischt sich Thomas in die Unterhaltung ein. Belanglose und weniger belanglose Themen werden besprochen.

Ein paar sagen, es muss gewisse Zeit vergehen, um in die Zukunft zu blicken. Viele sagen, dass es genaue zeitliche Richtlinien gibt. Andere meinen, das alles würde keinen Sinn machen, man sollte es gleich sein lassen. Aber die Wahrheit ist: es gibt keine Richtlinien, keine Zeitangaben. Das Einzige, was zählt ist dein Gefühl. Dein Gefühl, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Diese Überzeugung hilft mir, um eine wichtige Entscheidung zu treffen, als Thomas mich abends fragt, ob ich nicht bei ihm einziehen will.

Freude durchzieht meinen Körper. Lächelnd schmiege ich mich an ihn. Wie schon so oft gesagt, wie schon so oft gedacht: ich gehöre einfach hierher. Zu ihm.

I am his. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt