Die zweite Prüfung

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Lina blickte sich in dem Raum um. Er war durch mehrere Fenster an der linken Wand erhellt. In dem Raum standen mehrere Tische und Stühle und an der rechten Wand in der Ecke war ein Kamin. Gegenüber von der Tür, durch die Lina gerade gegangen war, befand sich eine weitere Tür. Ebenso auf der rechten Seite neben dem Kamin. Neben dem größten der vielen Stühle standen die junge und die ältere Frau, die Lina noch nicht beim Namen kannte. Beide schauten sie gleichgültig an, auch wenn ihre Augen eine andere Sprache sprachen. Denn diese waren voller Bewunderung und Stolz. Sie waren stolz, dass Lina es durch den ersten Raum und durch die erste Prüfung geschafft hatte. "Komm her.", wies die ältere Frau sie an. Lina setzte sich in Bewegung. Sie umklammerte die Holzkiste so fest, als würde sie ertrinken und die Kiste wäre ihre einzige Rettung. Mit langsamen Schritten näherte sie sich den beiden Ordensmitgliedern. Als sie schließlich vor den beiden stand, nickte die ältere Frau ihr anerkennend zu. "Du hast die erste Prüfung bestanden. Du hast bewiesen, dass du Anweisungen befolgst, indem du die Kiste nicht geöffnet hast. So, wie es in den Anweisungen auf der Tafel stand. Du hast bewiesen, dass du, um den Göttern zu dienen, alles geben würdest. Dass du dich jeder Gefahr stellen würdest. Dass du sogar gegen eine Schlange kämpfen würdest, um ans Ziel zu kommen. Du hast bewiesen, dass du würdig bist den Göttern zu dienen. Doch jetzt kommt die zweite Prüfung. Setz dich.", sprach die ältere Frau und deutete am Ende auf den großen Stuhl neben den drei Frauen.

Lina musste schlucken. Es war ein enormer Stuhl mit einer langen Rückenlehne. An den Stellen, an denen später Hände und Füße sein würden, waren Schlingen aus Leder an das Holz befestigt. Während Lina noch zögerte, wandte sich die jüngere Frau ab und lief mit schnellen Schritten zu dem Kamin. Sie legte ein paar Holzscheite hinein und entzündete ein kleines Feuer. Die ältere Frau nahm Lina die Holzkiste ab und schob sie sanft aber bestimmt zu dem Stuhl. Lina atmete noch einmal tief durch und setzte sich dann schnell in den Stuhl, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte. Die ältere Frau zog den Ärmel des rechten Armes bis zur Schulter hoch und schloss dann die Schlingen um Hände und Füße. Lina fragte sich, was es wohl damit auf sich hatte. Was sie in der zweiten Prüfung erwartete. 'Nichts Gutes.', dachte sie sich. Sie hatte ein schlechtes Gefühl. Die ältere Frau öffnete jetzt den Deckel der Holzkiste und Lina beugte sich gespannt vor. So sehr sie sich auch vor der zweiten Prüfung fürchtete, sie wollte unbedingt wissen, was in der Kiste war. Doch als Lina es sah, wurde ihr ganz schlecht und sie hätte es am liebsten doch nicht gewusst.

Jetzt konnte sie sich auch denken, wieso die ältere Frau ihren Ärmel hochgezogen hatte. Ihr schlechtes Gefühl hatte sie nicht getäuscht. In der Holzkiste befand sich ein Brenneisen in Form eines Sternes, welches die ältere Frau nun behutsam aus der Kiste holte, als wäre es das Heiligste auf dieser Welt. Sie schaute wie gebannt auf den Stern, ehe sie sich wieder Lina zuwandte. "In dieser Prüfung wirst du den Schmerz des Brenneisens aushalten müssen. Du darfst nicht schreien und keinen Laut von dir geben. Du darfst dich nicht wehren und dich nicht rühren. Du musst beweisen, dass du jeden Schmerz für die Götter in Kauf nimmst. Ohne zu schreien. Ohne dich zu beklagen. Ohne dich zu wehren. Du wirst dieses Zeichen in deinen rechten Oberarm gebrannt bekommen. Das Zeichen des göttlichen Sterns. Er ist das Zeichen unseres Ordens und zeigt an, dass wir den Göttern dienen. Bis in alle Ewigkeit.", erklärte die Frau und drehte sich dann um. Sie lief zu der anderen Frau an den Kamin. Das Holz war schon verbrannt und nur noch ein glühender Haufen Asche war übrig. Lina musste erneut schlucken. Ihre Kehle war ganz trocken. Ihre Gedanken rasten hin und her. Ihre Augen flatterten unruhig im Raum auf und ab. Sie musste es irgendwie schaffen den Schmerz auszuhalten. Sie war schon so weit gekommen. Sie durfte jetzt nicht aufgeben! 'Du musst stark sein. Tu es für deine Eltern! Tu es für dich!', sprach sie sich in Gedanken Mut zu. Ja, sie durfte nicht aufgeben. Sie musste es schaffen!

Lina wurde ruhiger und atmete erneut tief durch. Der Schmerz würde schlimm werden. Das wusste sie. Sie hatte einmal als kleines Kind gesehen, wie die Bauern ihre Rinder mit Brenneisen gebrandmarkt hatten. Die Tiere waren durchgedreht, sobald das heiße Eisen auch nur in ihre Nähe kam. Es musste also unvorstellbar heiß und somit unvorstellbar schmerzhaft sein. Lina tröstete sich damit, dass alle Ordensmitglieder diese Prüfung bestanden hatten. Sie hatten die Schmerzen ausgehalten. Also würde Lina das ja wohl auch können. Wenn schon Amelie und die andere junge Frau es geschafft hatten. Und sie waren sicherlich nicht viel älter als Lina selbst. Ihr neuer Mut verschwand jedoch schnell wieder, als sie die beiden Frauen mit dem glühenden Brenneisen auf sie zukommen sahen. Ihre Augen weiteten sich panisch und sie versuchte vergeblich ruhig zu bleiben. Sie schluckte. Und schluckte noch einmal. Sie atmete tief durch. Und atmete noch einmal tief durch. Endlich gelang es ihr etwas zur Ruhe zu kommen.

Die ältere Frau, die das glühende Brenneisen in der Hand hielt, setzte sich auf einen Schemel auf Linas rechter Seite. Die jüngere Frau nahm an ihrer linken Seite Platz. Zum ersten Mal zeigte sie ein echtes, mitleidiges Lächeln und drückte einmal kurz Linas Hand. "Du schaffst das. Du bist stark.", flüsterte sie ganz leise. Dann begann es. Ohne Vorwarnung trat das heiße Metall auf Linas rechten Oberarm. Die Schmerzen explodierten. Lina riss den Mund und die Augen auf. Sie wollte schreien, sich bewegen. Doch sie zwang sich ruhig zu bleiben. Sie biss sich fest auf die Unterlippe und schmeckte schon nach kurzer Zeit etwas Metallisches auf ihrer Zunge. Blut. Ihr Blut. Doch es war ihr egal. Sie musste durchhalten! Lina kniff gequält die Augen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, die ebenfalls anfingen zu bluten. Lina konnte nicht mehr. Es war kaum auszuhalten! Doch mit einem Mal erfüllte sie eine gewaltige Ruhe, die sich schnell wie ein Lauffeuer in ihrem Körper ausbreitete und sie beruhigte. Es war, als wären die Schmerzen wie weggeblasen. Erst als sie eine Hand auf ihrer rechten Schulter spürte, merkte sie, dass das Brenneisen verschwunden war und die ältere Frau gerade damit beschäftigt war eine Salbe auf die Brandwunde aufzutragen.

"Du hast es geschafft.", hörte sie die gedämpfte Stimme der jüngeren Frau. Lina lächelte. Erleichtert. Glücklich. Zufrieden. Und einfach nur befreit. Die ältere Frau wickelte noch einen Verband um die Wunde, befreite Lina dann von den Schlingen und zog den Ärmel vorsichtig hinunter. "Sehr gut. Nun kommen wir zur Wahl der Götter. Geh in den nächsten Raum. Mit etwas Glück sehen wir uns später wieder.", erklärte die ältere Frau und wies auf die nächste Tür. Lina nickte und stand schwankend auf. Das ganze Adrenalin verließ ihren Körper nach und nach und die Schmerzen in ihrem Oberarm kamen zurück. Sie machten sie fast wahnsinnig, doch das war ihr egal. Sie wollte in den nächsten Raum. Es endlich zu Ende bringen. Langsam lief sie los. Die große Tür fest fixiert. Sie legte eine Hand auf den Türgriff und atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete sie entschlossen die Tür und verschwand im nächsten Raum. Hinter ihr fiel die Tür leise ins Schloss.   

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