Er will dich

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Es waren zwei Tage seit Marias und Teresas Tod vergangen. Das Leben im Tempel nahm seinen gewohnten Lauf und kaum einer trauerte noch um die verlorene Ordensschwester. Lediglich Johanna hatte sich noch etwas von den anderen abgeschottet und lebte vor sich hin. Doch sosehr Lina ihr auch helfen wollte, Johanna war nicht aus ihrem dunklen Loch herauszuholen. Lina saß wieder einmal auf einem der Sessel in der Leseecke in der Hütte des Ares. Sie hatte sich ein neues Buch aus der offenen Bibliothek geholt, welches den Titel Märchen und Sagen trug. Eifrig begann sie zu lesen.

Es war einmal eine kleine Fee. Sie war kaum größer als ein Zeigefinger. Sie trug ein wunderschönes Kleid aus Blütenblättern und ihre Haare sahen aus wie flüssiges Gold. Die kleine Fee liebte den Frühling, wenn sie über die bunten Blumenwiesen fliegen konnte und ihre Flügel in der Sonne schimmerten. Sie liebte den Sommer, wenn sie in einem kleinen See im Wald in der Nähe ihres Hauses baden konnte. Sie liebte den Herbst, wenn alles so wunderschön bunt war. Und sie liebte den Winter, wenn sie im Schnee spielen konnte. Sie liebte alles in der Welt. Doch eines Tages wurde die Fee traurig, denn sie merkte, dass sie ja ganz alleine war. Es gab keine weitere Fee außer ihr. Also flog sie eines Nachts hinauf auf die Baumkrone einer großen Eiche und sah zum Mond. "Bitte, bitte lieber Mond. Ich will nicht mehr alleine sein. Schenke mir eine Fee an meiner Seite.", bat sie den Mond. Doch da sie kein Zeichen bekam, flog sie traurig wieder in ihre Hütte und legte sich schlafen. Was die kleine Fee nicht merkte: Der Mond begann heller zu strahlen und dann kam ein Stern auf die Erde geflogen. Er landete direkt vor der Tür ihres Häuschens. Am nächsten Morgen hatte die Fee schon wieder vergessen, worum sie den Mond gebeten hatte. Freudig machte sie sich fertig für den Tag und öffnete dann ihre Tür. Ihre Augen wurden groß. Vor ihrer Tür lag ein kleines Baby, eingewickelt in eine Sternendecke. Es öffnete die Augen und lachte sie an, dass es der Fee warm ums Herz wurde. Sie hob das kleine Kind hoch und die Decke fiel zu Boden. Dabei entblößte sie zwei schillernde Flügel. Das kleine Kind war eine kleine Fee. Und die Fee nahm das Kleine und zog es auf wie ihr eigenes Kind. Und immer, wenn jemand den Mond darum bittet, dann wird wieder eine Fee auf die Erde kommen. Also passt gut auf, wenn ihr das nächste Mal über eine Wiese lauft oder in einen Wald geht. Vielleicht begegnet ihr ja einer Fee.

Lina lächelte selig, nachdem sie dieses Märchen fertig gelesen hatte. Sie mochte die Vorstellung, dass es Feen und andere magische Wesen irgendwo in der Welt gab und man nur genau hinsehen musste, um sie zu finden. Sie legte das Buch zurück in ihre Tasche und stand dann auf. Sie wollte heute unbedingt einmal mit Johanna sprechen. Lina fand sie hatte lange genug in ihrem dunklen Loch gesessen und vor sich hin gelebt. Schnell stieg sie die Treppe zu den Zimmern hinauf und klopfte zaghaft an Johannas Tür. Kein Laut kam von drinnen, doch Lina wusste, dass Johanna in ihrem Zimmer war. Sie kam seit Teresas Tod nur ab und zu hinaus, um etwas zu essen. Sonst saß sie immer dort drinnen. Langsam öffnete Lina die Tür und trat in das Zimmer. Es sah genauso aus wie ihr eigenes. Auf dem Bett saß Johanna. Die Knie an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen und in die Leere blickend. Lina setzte sie neben sie und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Erst jetzt schien Johanna zu bemerken, dass jemand bei ihr im Zimmer war. Sie hob den Kopf und blickte Lina an. In ihren Augen schien ein Sturm zu herrschen. Bevor Lina auch nur irgendetwas sagen konnte, öffnete Johanna schon den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Lina wartete ab, bis sie von selbst reden würde. Das wäre das Beste.

"Sie war wie eine Art Mutter für mich.", begann Johanna. "Sie war immer für mich da. Hat mich gelobt und mir Sachen beigebracht. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie jetzt für immer fort sein soll." Johanna fing an zu schluchzen und vergrub ihr Gesicht in Linas Schulter. Etwas unbeholfen legte diese ihre Arme um die weinende Frau. So hatte sie Johanna noch nie erlebt. "Sie ist nicht weg. Wenn wir sie nicht vergessen, dann wird sie immer bei uns sein. Hier drin." Lina tippte auf die Stelle, an der ihr Herz schlug. Johanna schaute sie aus verheulten Augen an und nickte dann. "Du hast recht. Aber es ist trotzdem so schwer. Die anderen tun so, als wäre gar nichts passiert. Ich begreife das einfach nicht." "Ich auch nicht.", stimmte Lina Johanna zu. "Aber ich denke so ist der Lauf der Dinge. Wir alle müssen einmal sterben. Das kann man nicht ändern." Johanna drückte Lina ganz fest an sich. "Danke.", hauchte sie und löste sich dann wieder von ihr. Sie wischte sich einmal über das nasse Gesicht und sprang dann lächelnd auf. "Komm. Teresa hätte nicht gewollt, dass wir hier drinnen vergammeln. Außerdem gibt es gleich Mittagessen.", grinste sie und zog Lina auf die Beine, die nun auch wieder breit grinste. Zusammen schlenderten sie aus der Hütte und machten sich auf den Weg zum Speisesaal. Dort setzten sie sich wie gewohnt an den Tisch des Ares. Konstanze und Anika bedachten Johanna mit einem mitleidigen und zugleich erfreuten Lächeln, was sie selbst aber nicht mitzubekommen schien. Sie war viel zu beschäftigt damit ihren Eintopf in sich hinein zu schaufeln.

Nach dem Essen machten sich alle vier zusammen zurück auf den Weg in ihre Hütte. "Lina!", rief da mit einem Mal jemand und eine schwer schnaufende Viviane kam vor ihnen zum Stehen. "Ja?", fragte Lina verwirrt und auch die anderen drei Auserwählten des Ares runzelten die Stirn. "Also ich war, ich war ja heute am Tor. Wache und so. Und, es war unglaublich. Ich meine, das ist noch nie vorgekommen. Einfach unmöglich ist das, aber trotzdem ist es passiert. Und jetzt ist er da. Und es ist immer noch so unglaublich und überwältigend und....." "Komm zum Punkt Viviane.", seufzte Johanna genervt, verschränkte die Arme vor der Brust und verdrehte die Augen. "Ares!", schrie Viviane schon fast, sodass sich alle Ordensmitglieder, die sich gerade im Gang befanden, zu den fünf umdrehten. "Ares.", wiederholte Viviane diesmal flüsternd. "Ja, wir sind die Auserwählten des Ares. Wusstest du das nicht?", lachte Johanna ironisch. „Nein. Das meine ich doch gar nicht. Ares. Er, er steht draußen vor dem Tor. Und er will dich." Bei den letzten Worten blickte Viviane direkt Lina an, sodass ihr ein kalter, unangenehmer Schauer über den Rücken fuhr. Wie konnte das sein? Was hieß das, Ares war vor dem Tor und wollte sie?

Gott des KriegesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt