16 - Free Fall

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"Ich falle in einem freien Fall.
Ich drehe mich und kann nicht aufhören."
(Illenium - Free Fall)

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Als der Wecker mich dann nach nur wenige Stunden unsanft aus dem Schlaf riss, bereute ich unseren nächtlichen Ausflug vielleicht doch ein wenig.
Die seltsame Situation mit Frau Maisen schwirrte auch noch in meinem Kopf herum.
Warum war sie überhaupt so spät noch durch die Flure gewandelt? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir mitten in der Nacht noch jemanden begegnen. Darum hatte ich uns auch in Sicherheit erwartet.

Ennie und Finja sahen genauso verschlafen aus wie ich, aber irgendwie schafften wir es dann doch uns aufzuraffen und nacheinander in unser Badezimmer zu wandern.

Draußen war es bedeckt, aber laut meiner Handyapp angenehm warm. Also zog ich mir eine lange, blaue Jeans mit ein paar Löchern an und darauf ein weißes T-Shirt, welches ich mir in die Hose steckte.
Ich rundete mein Outfit mit einem Gürtel ab und war dann fertig.

Das Frühstück hatten wir heute möglichst weit nach hinten geschoben. Um etwas länger schlafen zu können und auch in der Hoffnung weder auf Frau Maisen noch auf Frau Jehner zu treffen. Die beiden waren meistens die ersten beim Frühstück.
Sonst waren wir nach dem Frühstück immer nochmal ins Zimmer gegangen. Heute packten wir jedoch unsere Sachen, sodass wir uns direkt nach dem Frühstück in der Eingangshalle treffen konnten.

Der Frühstücksraum war fast leer und nur Klara, Sophia und Elena saßen noch an einem Tisch und frühstückten gemütlich.
Als wir den Raum betraten winkte Klara mich zu ihr hin.
„Frau Jehner meinte vorhin zu uns, wir sollen bitte pünktlichst in der Eingangshalle sein, sie wolle noch etwas ansprechen."
Klara machte eine kurze Pause.
„Sie schien das sehr ernst zu meinen und wirkte irgendwie genervt."
Sie machte ein unsicheres Gesicht.
„Oh okay, danke."

Ich ging zum Tisch rüber an dem Finja und Ennie bereits aßen und erzählte ihnen von Klaras Nachricht.
„Hört sich nicht gut an."
Ennie gab sich nachdenklich und auch Finja schien verunsichert.
„Meint ihr, dass ist wegen gestern?"

„Ich glaube nicht, dass sie uns drei vorm ganzen Kurs zur Schnecke machen würde, das hat bestimmt irgendeinen anderen Grund."

Ich stimmte Ennie zu, aber Finja schien nicht überzeugt.
„Kann ich mir bei der schon irgendwie vorstellen, damit verleiht sie nochmal mehr Druck und zeigt den anderen was passiert."

Ich war mir nicht mehr sicher. Wenn ich so eine Aktion jemanden zutrauen würde, dann Frau Jehner. Aber Frau Jehner hatte doch nicht mal mitbekommen, dass wir erst so spät wiedergekommen sind, oder?

Hatte jemand unsere Besprechungen im Bus mitbekommen und hatte den Lehrern davon erzählt?
In mir machte sich Nervosität breit und ich bekam kaum noch was von meinem Brötchen runter.
Wenn irgendwas war, schlug sich das leider direkt auf meinen Magen aus und ich verlor sämtlichen Appetit.
Also nahm ich mir eine Serviette und packte mein Brötchen dort drinnen ein.
Während ich darauf wartete, dass Ennie und Finja auch fertig wurden, trank ich noch meinen Orangensaft aus.

Als die beiden dann auch fertig waren, packten wir unsere Brötchen für unterwegs ein und gingen dann Richtung Eingangshalle. Nur vier andere Mädchen aus unserem Kurs waren bereits da, also waren wir scheinbar pünktlich.
Außerdem war ich froh drüber, dass wir nicht die ersten waren, weil ich grade ungern mit den Lehrern alleine in einem Raum wäre.

Die Eingangshalle füllte sich und auch die Frau Maisen kam dann mit Frau Jehner. Sie schenkten uns keinen Blick, aber allgemein schienen sie heute distanzierter denn je.
Meine Nervosität stieg weiter. Ich versuchte mir einzureden, dass die gleich folgende Ansage wirklich nichts mit unserer Aktion gestern zu tun haben würde. Aber mein Bauchgefühl sagte mir was anderes.

Zehn Minuten vor dem eigentlichen Treffpunkt waren wir bereits vollständig. Ich hatte den Kurs selten so überpünktlich gesehen. Irgendwer kam immer zu spät.

Klara stand auf der anderen Seite neben mir und auch sie schien irgendwie beunruhigt und kaute nervös auf ihrer Lippe herum.
Warum war sie so nervös?

Dann räusperte Frau Jehner sich.
„Zu allererst, tut es mir leid, dass wir gestern auf der Rückfahrt in eine Vollsperrung gekommen sind. Ich weiß, dass sich einige von Ihnen den Abend anders vorgestellt hatten und so vielen Freizeit geraubt wurde, aber..."
Sie atmete kurz durch.
Ich sah unsicher zu Ennie und Finja rüber, beide wirkten ziemlich nervös.

Als Frau Jehner zum Weitersprechen ansetzte, schaute ich wieder zu ihr.
Ihre Stimme klang nun sehr streng.
„...Es ist keineswegs in Ordnung sich nach dem Eintragen in die Liste aus dem Haus zu schleichen. Außerdem sind wir uns sicher, dass das nicht die einzige Regel war, die gestern gebrochen wurde.
Verstehen Sie bitte, dass wir Sie damit nicht ärgern wollen, aber wir sind für Sie versichert.
Ich hoffe, dass die Personen, die wir meinen, sich angesprochen fühlen und wissen, dass wir das nicht unbestraft lassen werden."

Es war der Punkt, an dem mir bewusst wurde, dass dies dann wahrscheinlich mein letzter Tag hier war.
Ich wusste nicht wie ich meinen Eltern das erklären sollte und mir wurde schmerzlich bewusst, dass das dann auch vorerst der letzte Tag war, an dem ich Robin sehen konnte. Wenn überhaupt.

Ich schaute zu Finja und Ennie und formte mit meinen Lippen ein stilles „Mist."
Ennie nickte und auch Finja sah ich den Schock an.

„Für das Brechen dieser Regel, müssten die betroffenen Person eigentlich nachhause geschickt werden."
Frau Maisen erwähnte nun das, was ich mir sowieso schon gedacht hatte. Aber ich wunderte mich, dass sie im Konjunktiv sprach.

Dann ergriff Frau Jehner wieder das Wort:
„Wenn wir nun aber jeden nachhause schicken würden, der sich gestern aus diesem Haus geschlichen hat, könnten wir eigentlich die gesamte Fahrt beenden.
Ich hoffe Sie wissen, wie enttäuscht ich von Ihnen bin. Sie sollten sich glücklich schätzen, dass sie Glück haben und nicht nachhause geschickt werden.
Ohne Konsequenzen kommen sie trotzdem nicht davon."

So ganz hatte ich nicht verstanden was hier gerade vor sich ging. Ich war felsenfest davon ausgegangen, heute noch nachhause zu fliegen. Dass sich die Situation so wendete, hatte ich nicht erwartet.
Es fühlte sich an wie im freien Fall, aber im letzten Moment wurden wir aufgefangen. Wie Bungee-Jumping. Oke, vielleicht war das doch ein komischer Vergleich, aber irgendwie so fühlte es sich an.
Ich würde jede Konsequenz nehmen, Hauptsache ich könne hierbleiben.
Aber durch Frau Jehners Berichten wanderte nun die Frage durch meinen Kopf, wie viele sich wirklich rausgeschlichen hatten.

Ich ließ meine Blicke durch den Raum wandern und als ich zu Klara schaute, war ich mir sicher, sie hatte sich auch rausgeschlichen.
Das würde auch ihre Nervosität erklären.

„Ihr wisst sicherlich, dass sowohl heute, als auch morgen kaum Programm ansteht. Darum haben wir uns dazu entschieden, dass alle betroffenen Gruppen bis morgen Abend ein Referat herausarbeiten und vortragen müssen.
Sie haben Zeit sobald wir wieder vom heutigen Programm da sind bis morgen Abend um achtzehn Uhr.
Das geplante Programm für morgen, fällt für alle betroffenen Gruppen aus."

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