Kapitel 19 - Eine komplizierte Sache

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Jassy's Sicht:

Die letzten zwei Tage hatten Caleb und ich viel Zeit miteinander verbracht. Obwohl ich immer noch fieberhaft versuchte meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen, genoss ich die Zeit mit ihm. Wir gingen sogar Samstag gemeinsam einkaufen. Hin und wieder hatte ich ein Kribbeln im Bauch, welches ich aber sofort unterdrückte. Ich musste konsequent bleiben, denn Gefühle konnten schnell die Überhand gewinnen – und dann würde es zu spät sein. Ich hatte Angst verletzt zu werden oder jemand anderen zu verletzen. Gefühle machten alles kompliziert und am Ende kaputt. Brad tötete meinen Vater, da er meine Mutter liebte... Abgesehen davon war ich mir sicher, dass ich nicht liebenswert war. Niemand könnte je Gefühle für jemanden entwickeln, der so kaputt war wie ich. Caleb würde mir nur mein Herz brechen, wenn ich sie zulassen würde. Und es würde unsere Freundschaft zerstören.

Caleb's Sicht:

Bevor ich von Domi nach Hause fuhr, sah ich nochmal zur Wohnung. Am Balkon stand Jassy und sah in die Ferne. Ich sah sie an. „Verdammt, was soll ich bloß machen?" Ich erinnerte mich an Domis Worte und Jassys Verhalten Freitagmittag. Sie war so durch den Wind und wollte nicht mit mir reden... Und ich war mir mittlerweile sicher, wieso. Sie mochte mich. Sie versuchte es so krampfhaft zu verstecken und dennoch war es so offensichtlich. Ich seufzte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass ich losfahren sollte. Gedanken über die ganze Sache konnte ich mir noch während er Autofahrt und zuhause genug machen.

Es wirkte so logisch – aber gleichzeitig auch so surreal. Jassy war einerseits kalt und unnahbar – gebrochen und hilflos ihrer Sucht ausgeliefert – und anderseits war sie freundlich, nett und witzig. Sie war wie zwei Personen, wenn man sie wirklich kannte. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Sie wirkte nicht gerade glücklich, so wie es war. Konnte ich es ihr verübeln? Ich wusste nicht mal, was ich darüber denken sollte. Ich überlegte lange während der Autofahrt, denn auch ich fühlte etwas bei dem Gedanken an sie. Das Wochenende war viel zu schnell vergangen und deswegen konnte ich es kaum erwarten sie wiederzusehen. Auch wenn ich mir schon denken konnte, dass sie wegen mir so durch den Wind war, ich hatte es nicht angesprochen, weil es sie nur überfordert hätte. Außerdem war ich mir sicher, dass sie dann abgeblockt hätte. Denn ich wusste, wie schwer es war sie dazu zu überreden einem ihre wahren Gefühle und Gedanken zu offenbaren. Also hätte sie entweder gelogen oder drum rumgeredet. Und das hätte uns auch nicht weitergebracht. Das hätte die Situation nur noch unangenehmer gemacht.

Zuhause angekommen ließ ich mich aufs Bett fallen. „Was soll ich bloß machen? Sie hat bestimmt Angst, dass ihre Gefühle alles verändern würden – deswegen hat sie sich so komisch verhalten. Was hat sie nochmal gesagt? ‚Angst vor der Wahrheit'. Ich kann verstehen, dass sie Angst hat mich zu verlieren, aber...wie mach ich ihr bloß klar, dass es nicht schlimm ist seine Gefühle zuzulassen, ohne sie gleich mit meinen zu überfordern?", überlegte ich.

Instinktiv kramte ich mein Handy hervor. Ich starrte lange den Bildschirm an, bevor ich tatsächlich anrief.

Jassy's Sicht:

Mein Handy klingelte. Es war Caleb. Sofort drehte sich mein Magen um. „Entschuldigt mich kurz", meinte ich zu Domi und Juli und ging ins Badezimmer. Ich wollte nicht, dass sie mitbekamen, dass es Caleb war. Domi würde mich damit nur wieder aufziehen. „Hallo", meinte ich als ich abhob. Meine Stimme zitterte etwas vor Nervosität. Ich setzte mich hin und atmete unauffällig tief durch. Ich war viel zu nervös. „Verdammt, er wird es sicher mitkriegen", dachte ich in Panik.

„Hi, alles okay?" „Ja...und bei dir? Bist du gut zuhause angekommen?", fragte ich mit einer sehr irritierten Tonlage. „Ja." Großartig...Aber was war so wichtig, dass er mich anrief? Wir hatten noch nie telefoniert. „Was gibt's?", fragte ich. Stille. „Keine Ahnung... Ich wollte einfach mit dir reden." „O..kay?", sagte ich leicht verwirrt.

„Hör mal...Wollen wir vielleicht nächstes Wochenende in die Stadt fahren?", hörte ich ihn fragen. Mein Magen drehte sich und ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen. Zum Glück war ich schon im Badezimmer. Eine Sekunde später ging es wieder. „Sag nein. Sag nein! Ihr dürft nicht allein sein. Du kannst deine Gefühle nicht kontrollieren", dachte ich, doch ich wollte es nicht sagen. Ich hatte noch nie Gefühle wie diese erlebt. Und irgendwie gefielen sie mir – auch wenn ich mich noch nicht daran gewöhnt hatte. „Okay", sagte ich leise und zögernd. Ich konnte mich nicht zwingen Nein zu sagen. „Verdammt, verdammt. Warum kann ich mich auch nicht zusammenreißen?", fluchte ich innerlich. Sofort wusste ich, dass es ein Fehler war mich von meinen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Ich hätte kalkuliert und logisch bleiben müssen. „Du interpretierst zu viel hinein. Du wirst am Ende verletzt werden", sagte eine Stimme in mir. Ich musste logisch denken: Caleb wollte vielleicht was Wichtiges erledigen und nicht allein sein. „Das muss es sein", dachte ich angestrengt. Bloß nichts erwarten, dann kann man nicht enttäuscht werden. „Okay, dann bis Freitag", verabschiedete er sich, nachdem wir uns einige Zeit angeschwiegen hatten.

Ich legte mein Handy weg und wusch mir erstmal eiskalt das Gesicht. Ich musste sicherstellen, dass ich mir das Gespräch nicht nur eingebildet hatte. „Verdammt, was soll ich nur tun?", dachte ich und sah mich im Spiegel an. „Ich kann das nicht. Ich kann mit solchen Gefühlen nicht umgehen." Ich fühlte mich überfordert. Es war erst Sonntag und ich war jetzt schon fertig. Wie sollte ich die Woche in Ungewissheit überstehen? Ich hasste es, wenn Dinge nicht sofort klargestellt werden und Dinge ungewiss waren. Ich brauchte die Gewissheit, um zu denken.

Vor lauter Verzweiflung über mein inneres Chaos kramte ich instinktiv nach etwas Scharfen zum Schneiden. Es würde mein Gehirn wieder neustarten und ich würde wieder rational denken können. Ich sah die Klinge an. In mir war ein riesiger Drang mich zu schneiden, um den Druck zu vergessen. Mein Kopf war randvoll und das Ritzen würde ihn leeren und ich könnte wieder rational denken. Ich atmete tief durch. „Nein", sagte ich mir. Denn das würde Caleb erst recht verschrecken und es würde ein schreckliches Wochenende werden. Außerdem würde er sich selbst die Schuld geben und das war weit nicht meine Absicht. Also atmete ich tief durch und versteckte die Klinge wieder. Da ich nur noch eine hatte, wollte ich nicht riskieren, dass Domi sie fand und wegwarf. Denn wenn der Drang nicht aufhören würde, würde ich vielleicht doch einen Neustart brauchen um wieder normal denken zu können. Denn die gesamte Woche würde ich diesen Zustand nicht aushalten.

Save Me (Domtendo/RubinNischara FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt