Caleb's Sicht:
"Kann ich dich mal was fragen?", fragte sie mich nach einer Weile. "Klar." "Hältst du mich für einen Freak?", fragte sie. " Nein. Wieso?" „Keine Ahnung. Bis jetzt haben mich alle, die mein Geheimnis kannten, ausgestoßen. Mir wurde immer nur ‚Emo' oder ‚Aufmerksamkeitsgeil' entgegengeworfen. Ich hatte immer das Gefühl, nirgends hin- oder dazugehören." „Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, wenn man mit so einer Sucht lebt." Sie seufzte. „Du bist der Erste, der es tatsächlich als Sucht bezeichnet." Sie wirkte erleichtert. „Was sollte es sonst sein?" „Viele denken, dass man es nur tut, um Aufmerksamkeit zu bekommen."
Jassy's Sicht:
Wieder kurzes Schweigen. „Und wieso tust du es?", fragte er mich plötzlich. „Ich...Es...Es ist schwer zu beschreiben, warum man es tut. Man tut es einfach. So dämlich es auch klingen mag, aber der Kopf hat es so verankert, dass der Schnitt Klarheit und Besserung verspricht. Es beruhigt einen – zumindest mich. Du musst es dir wie dichten Rauch vorstellen, den du mit einem Laubgebläse wegpustest. Du siehst plötzlich alles klar und kannst erkennen, wie die Welt wirklich ist. Davor konntest du nichts sehen." „Verstehe. Der Schnitt pustet die Gedanken weg." Ich nickte. „Manchmal ist es auch ein Gefühl des ‚am Leben sein'." „Also ein Adrenalinrausch?" „So etwas in der Art. Es ist mehr, als würdest du denken das alles auf der Welt auf deinen Schultern lastet und du daran zu ersticken drohst. Und wenn die Klinge deine Haut zerschneidet, kannst du wieder atmen. So fühlt es sich an." „Heftige Beschreibung." „Es gibt so viele verschieden Gründe und Trigger, zu viele, um sie dir jetzt alle aus dem Stehgreif heraus aufzuzählen. Denn manchmal reicht nur ein Satz und ich hab das Gefühl die Kontrolle zu verlieren. Verständlich?" Er nickte.
„Die Leute wollen immer nur, dass man aufhört. Jeder sagt dir immer nur, wie schlecht es für einen ist – dabei wissen diese Leute gar nicht, warum man es tut oder wie es einem dabei oder danach geht. Man darf nicht immer alles nur aus einem Blickwinkel betrachten. Manchmal ist das ganze Bild anders als nur der Ausschnitt..." „Ich möchte nicht so klingen, als würde ich das, was du mir gesagt hast, nicht verstehen oder nachvollziehen können, aber...Du weißt, dass es nicht gut für dich ist, oder? Du machst dir damit deinen Körper kaputt?" Ich seufzte. Ich wusste, dass diese Aussage kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber zumindest hatte er mich erst einmal meine Sicht der Dinge erklären lassen. Normalerweise unterbrachen einen die Leute direkt und fingen mit der Moralpredigt an.
„Ja, dessen bin ich mir bewusst. Ich bin mir der Realität sehr wohl bewusst. Genauso wie ich mir bewusst bin, dass die Narben jahrelang sichtbar sein werden. Das nehme ich aber in Kauf, solange ich dadurch alles, was mir so widerfahren ist und widerfährt kompensieren kann. Ich hab mich damit abgefunden, dass es...in gewisser Weise schon ein Teil von mir geworden ist."
„Machst du es jeden Tag?" Ich schüttelte den Kopf. „Es kommt immer auf die Situation an und darauf, wie es mir geht...", sagte ich. „Und heute?", fragte er vorsichtig. Ich seufzte. Ich wusste genau, was er damit erreichen wollte. „Dreimal darfst du raten. Aber keine Sorge, ich hab nichts dabei. Auch ich bin nicht so abhängig, dass ich nicht ohne eine Klinge das Haus verlassen kann." „Weil du dachtest, du müsstest nichts verdrängen", murmelte er. Damit hatte er jetzt einen wunden Punkt getroffen. „Ich verdränge nicht", fuhr ich ihn an. Genau jetzt wo ich angefangen hatte ihm zu vertrauen, fiel er mir so in den Rücken. Er verstand mich also doch nicht wirklich. „Ich glaube, du redest dir nur selbst ein, dass es nicht ohne geht." „Oh bitte, komm mir jetzt nicht mit der Nummer." „Es gibt andere Wege Dinge zu verarbeiten. Weniger selbstzerstörerische Dinge." Ich atmete tief durch. Ich wollte ihn nicht beleidigen, deswegen überlegte ich gut, was ich sagte. Normalerweise sahen solche Gespräche ganz anders aus. „Du hast selbst gesagt, dass ich süchtig bin. Du weißt also genauso gut wie ich, dass ich nicht einfach so damit aufhören kann..." „Du könntest es aber versuchen..." Ich seufzte und mein Blick veränderte sich. „Denkst du, ich hab es noch nie probiert? Ich hab schon so oft versucht aufzuhören, aber...Es ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst...Mal bist du für ein paar Tage clean und dann triggert dich irgendwas so hart, dass du es nicht aushältst...Manchmal schaffst du es sogar ein paar Wochen und Monate, aber...immer wieder kommt irgendwas, was dich in ein Loch wirft und dann geht es einfach nicht mehr...Es...es geht dann nicht mehr...Und...Du hasst dich so sehr dafür...Du schämst dich so sehr dafür, aber...du kannst es nicht sein lassen."
Stille. Wir schwiegen uns wieder an. „Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe", meinte er schließlich. „Schon okay. Du meinst es nicht böse. Du willst nur helfen." Ich sollte Caleb seine Worte nicht übelnehmen. Er war der erste Mensch, der zumindest etwas versuchte, die Situation aus meiner Sicht zu sehen und meine Gründe nachzuvollziehen. Ich konnte verstehen, dass es nicht einfach war zu akzeptieren, dass man einem Menschen nicht einfach sagen konnte ‚Es ist schlecht für dich' und der Mensch sieht es nicht so, wie man es selbst sieht.
Caleb's Sicht:
Ich hoffte nur, dass ich damit nicht alles verbockt hatte. Sie wirkte ziemlich wütend und enttäuscht von meinen Fragen und Aussagen. Ich wollte nur wissen, wie sie wirklich darüber dachte. Ob sie zumindest zugab, dass es schlecht für sie war und ob sie schon einmal versucht hatte aufzuhören. Und jetzt kannte ich die Antworten auf diese Fragen.
Es verging wieder einige Zeit, in der es still war. Ich hatte mich wieder hingelegt und versuchte weiter einzuschlafen. Einige Zeit später hörte ich, wie Jassy von der Couch aufstand. Ganz leise. Vermutlich dachte sie, ich würde schlafen. Instinktiv sprang ich von der Couch auf und hielt sie fest. Sie erschrak und zuckte zusammen. Dabei ließ sie etwas fallen. „Scheiße", murmelte sie kaum hörbar. Ich konfrontierte sie nicht mit ihrer vorherigen Lüge, denn sie wusste genauso gut wie ich, dass ich wusste, was ihr runtergefallen war – und warum sie damit auf dem Weg zum Badezimmer war. Sie versuchte sich auch nicht rauszureden.
Es dauerte etwas, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Caleb, bitte lass mich los", sagte sie, beinahe flehend. „Es hat keinen Sinn mich davon abzuhalten zu versuchen..." Ich seufzte und ließ sie schließlich los. Noch bevor sie sich runterbeugen konnte, sagte ich: „Ich werde dich nicht aufhalten. Es ist deine Entscheidung, was du jetzt tun willst. Ich will dir nur sagen, dass ich daran glaube, dass du es schaffen kannst dich heute nicht zu verletzen – auch wenn der Tag mehr als nur ein wenig nervenaufreibend für dich war. Aber auch wenn der Tag nicht so gelaufen ist, wie du es geplant hattest: Es war trotzdem nicht alles schlecht, dass musst du zugeben...Du solltest die negativen Ereignisse nicht über die positiven gewinnen lassen." Sie beugte sich wieder hoch und ging zurück auf ihre Seite der Couch. Sie setzte sich hin. Ich versuchte im Dunkeln die Klinge aufzuheben, ohne mir dabei in die Hand zu schneiden. Sie war aber nicht mehr da. Jassy hatte sie aufgehoben. Ich beschloss es aber nicht zu erwähnen, denn ich hatte mich schon zu sehr eingemischt. Ich musste vorsichtig an die Sache rangehen, wenn ich sie nicht verschrecken wollte. Denn wenn sie anfing mir zu misstrauen und eine Mauer aufzubauen, hatte ich verloren.
Jassy legte sich hin – und zwar mit dem Rücken zu mir. Damit wollte sie demonstrieren, dass sie doch etwas sauer war, dass ich mich in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte. Ich hingegen war froh – und auch etwas stolz, dass ich es geschafft hatte, sie davon zu überzeugen sich heute nicht zu verletzen.
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Save Me (Domtendo/RubinNischara FF)
FanfictionDas ist die Geschichte von Jassy. Durch Zufall gewinnt sie bei einem Gewinnspiel vom Let's Player Domtendo. Sie bekommt eine Eintrittskarte zur Gamescom und darf dort mit ihm den Tag verbringen. Zuerst freut sich Jassy, doch als sie dann tatsächlich...