Kapitel 4 - Der erste fatale Fehler

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Caleb's Sicht:

Ich stand seit fünf Minuten am Gelände der Gamescom und wartete darauf etwas von Domi zu hören. Kein Anruf, keine SMS, nichts. Vermutlich war im Bus zu viel los, um überhaupt sein Handy rauszuholen. Ich kannte das nur allzu gut von meiner Schul- und anfänglichen Unizeit. Also wartete ich geduldig und trank meine Cola aus. Es waren gefühlte 35 Grad hier in Köln und die Menschenmasse mache es nicht gerade besser. Die Luft war trocken und schwül.

Endlich sah ich einen Bus vorfahren. An die 150 Menschen strömten heraus und bewegten sich sofort auf die Halle zu. Irgendwo ganz am Ende des Strahls konnte ich Domi erkennen. Er sah mich und steuerte direkt auf mich zu. „Hey", begrüßte er mich. „Hey", antwortete ich. Neben ihm stand ein Mädchen. Sie war ziemlich klein und hatte schwarze Haare, welche am Ende pink gefärbt waren. Domi hatte mir vorab nicht viele Informationen über sie gegeben. Ihr Name war Jasmin, sie war 19 Jahre alt und kam aus Österreich. Das war alles, was ich wusste.

Ich sah sie an. Und sie sah mich an. Ein leichtes Lächeln formte sich auf ihren Lippen.„Jassy, das ist Caleb. Caleb, das ist Jasmin, kurz Jassy", stellte Domi uns einander vor. „Hallo", sagte sie schüchtern. „Hi", sagte ich. Wir schüttelten uns zur Begrüßung die Hände. Als sie ihren Arm aussteckte bemerkte ich, dass sie ein langes Shirt trug. Ich war etwas verwundert, denn so ein Shirt war eher etwas für Herbst oder Winter – nicht Hochsommer. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, schüttelte wir uns die Hände und ich sah, wie ihr linker Ärmel verrutschte. Ich erkannte rote Striche. Wäre ich nicht so fokussiert auf das lange Shirt gewesen, wäre es mir vermutlich gar nicht aufgefallen. Doch jetzt wusste ich sofort, warum sie im Sommer langarm trug.

Sie sah mich an – und ich sah sie an. Ich wusste, dass sie wusste, dass ich es gesehen hatte. Doch sie versuchte es so gut es ging zu verstecken. Wir ließen unsere Hände los, starrten uns aber immer noch an. Keiner sagte ein Wort. Ich wollte kein Arschloch sein und die Stimmung verderben, also sagte ich nur: „Kommt, lasst uns reingehen."

Jassy's Sicht:

Für eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl mich direkt zu übergeben. Er sah mich an – und ich sah ihn an. Und sein Blick bestätigte es mir: Er hatte es gesehen. Ich ließ seine Hand los – mein Blick immer noch auf ihn fokussiert. Dann aber ließ er von mir ab uns sagte nur „Kommt, lasst uns reingehen."

Erleichtert atme ich auf. Caleb hielt mir die Karte vor die Nase. „Hier, deine Karte", sagte er. Ich nickte dankend und nahm sie entgegen. Ich konnte das Mitleid in seinen Augen sehen. „Wunderbar" dachte ich. Wir gingen in Richtung VIP-Eingang. Domi und Caleb hatten ‚Creator-Ausweise' und ich war einfach nur die Begleitung.

Nachdem wir drinnen waren, ging ich sofort auf die Toilette. Mir war schlecht. Ich fühlte mich, als müsste ich mich übergeben. Panik stieg in mir auf und ich hatte das Gefühl kaum atmen zu können. Doch ich musste mich beruhigen. Ich würde sie nicht ewig täuschen können. Ich kramte aus meinem Rucksack einen Pullover hervor und zog ihn über. Ich würde nicht noch so ein Desaster riskieren. Ich beeilte mich so schnell wie möglich wieder normal zu wirken. Denn jede Minute, die ich auf der Toilette verbrachte, hatte ich mehr Angst, dass Caleb mit Domi drüber reden könnte, was er gesehen hatte.

„Sorry, hat etwas gedauert. Da drinnen ist die Hölle los", sagte ich. „Ist dir nicht heiß?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich war die letzte Woche ziemlich erkältet", log ich. Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Caleb sah mich an. Ich sah sofort weg, denn natürlich erkannte er, dass es eine Lüge war. Doch ich konnte mich seinem Blick nicht stellen. Es tat mir leid, dass er es gesehen hatte – aber ich konnte es nicht rückgängig machen.

Dann begannen wir uns auf der Gamescom umzusehen. Anfangs brauchte ich etwas, um mich an die ganzen Menschen und das Gedränge zu gewöhnen, aber so war das nunmal auf so einer Veranstaltung. Ich versuchte mich so gut es ging damit abzufinden, dass sich das den ganzen Tag nicht ändern würde. Abe ich wollte mir davon nicht die Laune verderben lassen. Einen Tag lang wollte ich leben wie ein normaler Mensch – dass das aber nicht möglich war, bewies allein der Pulli, den ich trotz der Hitze trug. Ich war nicht normal und egal wie sehr ich es versuchte, Domi und Caleb wussten, dass es so war.

Wir gingen stundenlang von Halle zu Halle. Mittlerweile waren wir knappe drei Stunden unterwegs und hatten weit noch nicht alles gesehen. Endlich waren wir bei den Nintendo-Ständen angekommen.

Ich wollte das neue Smash Bros anzocken, doch es lag nirgendwo ein zweiter Controller. Domi hatte seinen von einem vorherigen Besucher in die Hand gedrückt bekommen, doch der Zweite war nirgends zu sehen. „Wir haben dort hinten noch einen dritten", deutete mir eine Mitarbeiterin, die immer noch den verschwundenen Controller suchte. „Okay, danke", sagte ich und ging zu dem Gerüst, auf das sie gedeutet hatte. Und tatsächlich lag in einem der oberen Regale eine Schachtel. Dort würde vermutlich einer auf Reserve liegen.

„Na super", dachte ich, denn er lag sicher auf 1.70 Meter Höhe. Ich streckte mich hoch auf Zehenspitzen und hob meinen Arm. Doch selbst so war ich zu klein. Ich streckte und streckte mich. Ich konzentrierte mich so sehr darauf die Schachtel zu erwischen, dass ich nicht merkte, wie Domi auf mich zukam, um mir zu helfen. In meiner Anstrengung merkte ich gar nicht, wie Domi kam, um mir zu helfen.

Es kam, wie es kommen musste: Domi stand neben mir. „Komm, lass mich dir helfen." Er sah nach oben, ich sah nach oben und langsam rutschte mein Ärmel runter. Es passierte so plötzlich, dass ich nicht reagieren konnte. Er blieb am Ellbogen hängen. Eine Sekunde dauerte es, bis ich begriffen hatte, was gerade passiert war. Blitzartig zog ich den Arm zurück und schob den Pullover zurecht.

Ich traute nicht hochzusehen. Ich wusste, dass Domi es gesehen hatte und nun darauf wartete, dass ich ihn ansah und die Enttäuschung in seinem Blick mitbekam. Doch ich wollte es nicht sehen – ich konnte es nicht sehen. Ich bekam Panik. Ich hatte das Gefühl, meine Kehle würde zugeschnürt werden. Atmen fiel mir schwerer und ich rang innerlich nach Luft.

Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit in denen ich auf den Boden starrte und nichts sagte – tatsächlich waren es aber vielleicht 30 Sekunden. Ich konnte nicht denken. Mein Kopf war bis zum Bersten überfüllt. Schon gar nicht wusste ich, was ich zu Domi sagen sollte. Ich wollte nicht mal darüber nachdenken, wie ich ihm die Sache erklären sollte.

In mir stieg immer mehr Panik auf – unkontrollierbare Panik. Ich wollte nicht zusammenbrechen – zumindest nicht hier vor all diesen Leuten. Also rannte ich so schnell es ging. Wohin war mir egal. Hauptsache weg von den Menschenmassen – weg von Domi und Caleb. 

Save Me (Domtendo/RubinNischara FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt