Kapitel 24 - Über den Schatten springen

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Jassy's Sicht:

Am nächsten Morgen sah ich furchtbar aus. Ich musste nicht mal in den Spiegel schauen – ich wusste einfach, dass es so war. Immerhin war ich ¾ der Nacht wach gelegen und war irgendwann eingeschlafen. Nun war es 10. Domi, Juli und Caleb waren anscheinend am Zocken, deswegen beschloss ich die Zeit für eine Dusche zu nutzen. Ich musste nachdenken, denn ich war immer noch genauso durcheinander wie am Abend zuvor. Doch ich konnte nichts daran ändern. Das Einzige, was helfen würde, wäre mit Caleb nochmal darüber zu reden – doch genau aus diesem Grund würden wir eine Runde draußen spazieren gehen. Ich legte mir ein paar Punkte zurecht, über die wir uns unterhalten könnten. Denn ich wollte nicht wieder wie der letzte Idiot dastehen und nichts herausbekommen. Doch jedes Mal, wenn ich eine Antwort übte, bekam ich anfangs kein Wort heraus. Ich wurde rot und ich musste mich zwingen eine Antwort zu geben. Wie um alles in der Welt sollte das gutgehen?

Ich sah in den Spiegel. „Wie zur Hölle konnte ich jemals in so eine Situation geraten?", fragte ich mich. Ich, die seit Jahren ausgestoßen wurde. Die ihre Familie verlassen hatte, da ihr Stiefvater wahnsinnig war und sie am liebsten tot sehen würde. Die sich seit Jahren selbst durch Leben kämpfte, am Limit lebte. Und auch wenn man all das auf Brad schieben konnte – die Selbstverletzung, die Suizidgedanken, die Sozialphobie und die kalte Abwehrhaltung gegenüber jeglichem Menschen,... all diese Dinge waren meine eigene Schuld. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl unnahbar und unliebbar zu sein. Die Leute hielten sich von mir fern, Schwärme gaben mir vor den Augen der anderen Körbe. Das alles war schon vor Brad so. Und danach hielt ich mich von jedem Menschen fern. Ich wollte niemanden in Gefahr begeben, deswegen unternahm ich mit niemanden meiner Tanzgruppe privat etwas. Der Einzige, mit dem ich etwas Zeit verbrachte, war Markus, mein Trainer. Doch alle anderen kannten nur meinen Decknamen und sonst nichts. Doch ich war eine der Besten, deswegen akzeptierten alle meine „mysteriöse Präsenz". Doch zurück zu meinen Gedanken über Caleb. Ich konnte einfach nicht fassen, was er gesagt hatte. Mein Gehirn kam immer noch nicht ganz damit klar. Immerhin war ich noch nie in einer solchen Situation. Doch es fühlte sich eigentlich gar nicht schlecht an. Es fühlte sich sogar gut an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ging kam ich aus dem Bad. „Die nächste Wasserrechnung geht auf dich", meinte Domi. Doch ich nickte nur. Immerhin war es nur fair. Außerdem hatte ich für solche Späße gerade keinen Platz in meinem Kopf. Ich war zu sehr beschäftigt normal auf alle anderen zu wirken. „Was ist los?", fragte er. Er hatte natürlich auch mein verändertes Verhalten bemerkt. „Nichts", sagte ich nur leise. Domi rollte mit den Augen. Anscheinend nahm er es mir schon langsam übel, dass ich mit ihm nicht zu reden schien. Ich beschloss das Wochenende abzuwarten und vielleicht mit ihm über die Ereignisse zu sprechen, wenn Caleb wieder weg war. Die Sache mit Caleb würde ich natürlich vorerst nicht erwähnen.

Es gab Mittagessen, doch mein Magen war nicht sehr begeistert von der Idee zu essen. Denn immer, wenn ich emotional aufgewühlt war, konnte ich keinen Bissen hinunterbekommen. Und so war es auch dieses Mal. Doch um mich nicht erklären zu müssen zwang ich mich eine kleine Portion hinunterzuwürgen. Mit einem Stein im Magen saß ich danach auf der Couch und las ein Buch – zumindest tat ich so als ob. Ich konnte mich auf keinen einzigen Satz konzentrieren. Domi und Caleb gingen wieder zocken und ich hatte das Gefühl ich würde wahnsinnig werden – denn bis die beiden fertig waren konnten Stunden vergehen. Ich wollte aber nicht zu ihm hingehen und ihn fragen, ob wir jetzt rausgehen konnten.

Eine Stunde verging bis Caleb zu mir kam. „Lust auf ein wenig frische Luft?", fragte er. Ich nickte. Draußen sahen wir uns zuerst unauffällig um. Es war weit und breit keine Spur von Brad zu sehen. Wir gingen zur Sicherheit eine Straße entlang, wo mehrere Menschen entlang gingen. Als wir einigermaßen weit von unserem Wohnblock entfernt waren nahmen wir eine kleine Abzweigung und landeten auf einem leeren Spielplatz. Ideal um zu reden. Noch einmal sahen wir uns in alle Richtungen um. Dann setzten wir uns auf die Schaukeln.

„Ich hab lang nachgedacht", meinte er, „über das, was wir gesagt haben und über das was ich fühle. Du wahrscheinlich auch, sonst hättest du wahrscheinlich nicht so lange geschlafen." Ich nickte. „Also erzähl...", forderte er mich auf. Ich atmete tief durch. Ich konnte nicht ständig vor allem davonlaufen – das hatte ich lange genuggetan. Aber aus dieser Situation kam es so oder so kein Entkommen. Egal wie weit ich laufen würde, meine Gefühle würden mich immer wieder einholen. „Okay. Ich bin schlecht in sowas, also hör mich genau zu, denn wahrscheinlich kann ich das, was ich jetzt gleich sagen werde nicht wiederholen", meinte ich. Caleb sah mich gespannt an. „Die Sache ist die: Ich mag dich. Mehr als ich anfangs geplant hatte. Ich bin mit der Situation und meinen eigenen Gefühlen überfordert. Ich hab das Gefühl durchzudrehen, wenn ich nur an dich oder an die Situation zwischen uns denke. Und anderseits will ich gar nicht daran denken." „Weil du dir einredest, dass du keine Gefühle zulassen darfst?" „Richtig." „Jasmin, ich hab dir schon am ersten Tag als wir uns kennengelernt haben gesagt, dass ich dich durchschauen kann." „Ich weiß. Gerade aus diesem Grund hatte ich so wahnsinnige Angst irgendwas zuzulassen. Ich dachte, du würdest mich so oder so nicht mögen, deswegen wollte ich es nicht einmal versuchen." „Und als du gemerkt hast, dass es nicht so ist?" „Ab dem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung mehr, was ich denken oder fühlen sollte. Ich war nur noch verwirrt. Ich dachte, du wolltest vielleicht nur nett sein, aber...seit gestern weiß ich, dass es nicht so ist." „Und das überfordert dich?" „Keine Ahnung. Ich..." „Du lässt keine Gefühle zu, ich versteh schon." „Das ist nicht wahr. Wäre dem so, hätte ich gestern nicht mit dir geredet – und dann würde ich jetzt nicht hier sitzen." Caleb nickte. In diesem Punkt musste er mir recht geben. Ich baute zwar eine Mauer um mich herum auf, jedoch hatte ich zugelassen, dass er sie durchbrach. „Ich hasse mich selbst und ich kann mir nicht vorstellen, wie mich jemand auch nur ansatzweise mögen könnte. Ich bin kaputt. Wie ein Spielzeug, dass nicht richtig funktioniert. Die Leute werfen es meistens weg, weil sie lieber eins hätten, das richtig läuft. Ich kann mir schwer vorstellen, dass du das anders siehst – und trotzdem ist es so." „Tja, wie du es so schön ausdrückst: Ich mag dich mehr als ich anfangs geplant hatte." Ich nickte.

„Wovor hast du Angst?" „Ich..." „Du glaubst, dass ich dich verletzen werde? Du glaubst, dass ich es von Anfang an nicht versuchen will? Oder redest du dir ein, dass du dich von mir fernhalten musst, um mich zu schützen?" Ich nickte. Wie immer wusste er genau, was Sache war. Er hatte meine Mauer überwunden, denn egal wie viele Hindernisse ich aufstellte, er umging alle. Und aus diesem Grund verdiente er die Wahrheit – und nichts anderes als die Wahrheit. „Sieh mich an", meinte er, als er merkte, dass ich wieder in Gedanken abdriftete. Sofort streckte ich den Kopf hoch. „Ich verspreche dir, dass ich dich niemals absichtlich verletzen würde. Niemals."

In meinem Kopf hörte ich seine Worte immer und immer wieder. So wie eine Dauerschleife. Erst jetzt konnte ich realisieren, dass es wirklich gerade passierte. Es wirkte immer noch so surreal. Aber das erste Mal glaubte ich alles, was jemand anderes mir sagte. Ich konnte ihm zuhören, ohne alles zu hinterfragen. Ich konnte realisieren, dass er es ernst meinte. Er stand auf. Unfähig etwas zu sagen oder zu reagieren, sah ich ihn einfach nur an. „Und wenn du mich lässt", begann er und ging noch ein paar Schritte auf mich zu. Er ging in die Hocke, sodass ich auf der Schaukel wieder auf Augenhöhe mit ihm war. „werde ich es dir beweisen."

Save Me (Domtendo/RubinNischara FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt