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Wie festgefroren stand ich vor einer Ruine, die einst mal unser Haus gewesen war. Die Fenster zerschlagen, ein Großteil der Mauer bröckelte. Eine Tür gab es nicht mehr.
Mein Mund stand leicht offen und meine Augen fokussierten sich auf das ehemalige Gebäude vor mir.
Luke hatte anscheinend schneller als ich begriffen, was geschehen sein musste.
„Jane, wir müssen hier weg. Jetzt!"
Ich schüttelte wie betäubt den Kopf und brachte nur ein heiseres „Nein." hervor.

Es kam mir vor als würde ich in Zeitlupe gehen, als ich durch den Türrahmen trat.
Überall lagen zerbröckelte Steine und Scherben rum.
Nichts erinnerte an das Zuhause, das es einmal gewesen war.

„Ach, scheiße.", hörte ich Luke fluchen, als er hinter mir ins Haus sprintete.
„Da kommen Wachen. Gibt es hier nen Hinterausgang?"
Ich schüttelte den Kopf. In allen Häusern und Geschäften gab es nur einen Eingang, der gleichzeitig als Ausgang funktionierte. Warum, hatte ich noch nie verstanden.

„Hoch.", hieß seine Anweisung, der ich nur mit Widerstand folge leistete.
Wo war meine Mutter? Tot? Verschleppt? Geflohen? Ich zitterte am ganzen Körper, während Luke versuchte zu vermeiden, dass ich rückwärts die Treppe runter fiel.

Wie in Trance, zeigte ich stumm auf mein altes Zimmer. Es war der hinterste Raum, weshalb ich leichtsinnig annahm, dass wir dort vorerst sicher waren. Ich biss mir auf die Lippe, als ich sah, dass auch hier alles zerstört war. Schrank und Schubladen waren aufgerissen worden, mein Bett auseinandergenommen.
Sie hatten etwas gesucht.

Luke sah sich um, bis sein Blick am ehemaligen Fenster hängen blieb. Er zog seine Waffe und blickte vorsichtig runter.
„Deine Nachbarn haben gepetzt, wie es scheint.", seine Stimme war nahezu lautlos.
Enttäuscht schloss ich die Augen.
Sie waren keine schlechten Menschen. Aber sie hatten Angst und ihr eigenes Leben war ihnen nunmal wichtiger.

Ich musste mich beruhigen. Ich dachte zu viel nach.
Jetzt ging es schließlich nicht nur um mein eigenes, sondern auch Lukes Leben.
Nachdenken konnte ich später, ich würde mich jetzt nicht von Gefühlen leiten lassen. Mein Überlebensinstinkt setzte ein.

„Wie viele?", flüsterte ich.
„Neun."

Das war machbar. In der Simulation hatte ich schon mehr besiegt und die waren deutlich geschickter als die Wachen.
„Es kommt Verstärkung.", Luke sprach ruhig. Es war keine Spur von Aufregung oder gar Panik zu erkennen. Ich hörte wie eins der Autos der Regierung auf uns zukam und zusätzliche Wachen ebenfalls die Straße entlang marschierten.

„Wieso schicken sie so viele?"
„Die gehen kein Risiko ein. Sie denken, dass sie wissen was wir können.", er machte eine Kunstpause. „Dabei haben sie nicht die leiseste Ahnung."

Ich bemerkte wie Lukes Elex-Ader kurz aufblitzte.
Er schaute prüfend zu mir rüber.
„Du weißt wie man schießt. Es geht um Schnelligkeit. Ich will, dass die Hälfte bereits tot ist, bevor es der erste bemerkt. Verstanden?"
Luke schien ziemlich viel vertrauen in mich zu legen, obwohl mir die Aufgabe nicht möglich schien.

„Wenn ich dir eine Aufgabe gebe, dann nur weil ich mir sicher bin, dass es für dich machbar ist. Trau dich bloß nicht daran zu zweifeln. Das ist kein Spiel."

Ich sah Luke in die Augen. Das war ernst.
Langsam zog ich meine Waffe und warf einen Blick nach unten. Sie wussten, dass wir im Haus waren. Aber entdeckt wo genau hatten sie noch nicht.

Das Rauschen von Funkgeräten und die elektronischen Stimmen sorgten für Unruhe in der stillen Nacht und so viel es keinem auf, wie nacheinander Wachen zusammensackten. Die äußeren zuerst. Ich ließ es nicht zu, dass auch nur ein Gedanke zuviel mich erreichte. Es ging um Schnelligkeit. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich das schwarze Funkeln von seinem Elex. Seine Hände glühten und ich spürte wie eine kleine Druckwelle an mir vorbei nach unten schoss.
Innerhalb einer Sekunde hatte Luke ebenfalls seine Waffe gezogen.
Aus der Fahrerkabine des Wagens war noch immer keiner ausgestiegen, allerdings war die Beifahrertür leicht geöffnet.

Ich hatte unbemerkt mit Luke schon deutlich mehr als die Hälfte ausgeschaltet, was gar nicht so schwer war, da alle ihren Blick starr auf die Tür gerichtet hatten und weit genug auseinander standen. Eine Wache eines höheren Dienstgrades forderte uns im fünf Sekundentakt dazu auf, aufzugeben und mit den Händen als Fäuste über uns gestreckt, rauszukommen.

„Da oben."
Luke und ich sprangen ruckartig vom Fenster weg, als klar wurde, dass wir entdeckt worden waren.
Ich nahm wahr wie meine Elex-Ader zu funkeln begann und meine Hände leicht kitzelten.
Leicht panisch blickte ich zu ihm hoch.

Abwägend sah er zwischen mir und den Wachen, die draußen hektisch versuchten zu kommunizieren, hin und her. Wieder hallten Schritte. Noch mehr Wachen.

Für einen Augenblick verharrte sein Blick auf mir, dann half er mir hoch.
„Egal was passiert, du darfst nicht in Panik geraten. Auch wenn du denkst, dass du die Kontrolle verlierst, musst du ruhig bleiben. Ich bleib in der Nähe. Dir wird nichts passieren."
Er schob den Ärmel meiner Uniform etwas hoch, um einen besseren Blick auf meine Ader zu haben und nahm mir dann meine Waffe ab.

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