Kapitel 16

4.6K 83 0
                                    

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist die Betthälfte neben mir leer. Verwundert schaue ich mich im Raum um, doch Michi ist nirgends zu finden – dann ist er wohl schon unten. Ich nehme mir mein Handy, um zu schauen, wie spät es ist, als ich sehe, dass ich drei verpasste Anrufe, zwei von Sophie und einen von Ms. Porter, habe. Oje, das kann nichts Gutes bedeuten. Ich hoffe, Sophie macht sich nicht allzu große Sorgen um mich. Ich rufe sie also gleich zurück und bin überrascht, dass sie mich, als sie abhebt, nicht sofort anschreit. „Hey, Michi hat mich angerufen und mir erzählt, was passiert ist und wie's dir geht. Ist es schon besser?", fragt sie mitleidig. „Ich weiß es nicht. Ich hab' noch nicht versucht zu gehen" „Das solltest du auch nicht. Mit einem Bänderriss ist nicht zu spaßen, außerdem wirst du wahrscheinlich vor lauter Schmerzen sowieso nicht gehen können." „Danke für die beruhigenden Worte.", sage ich ironisch. „Hey, ich will einfach nicht, dass du dich noch schwerer verletzt, als du eh schon bist" „Das ist im Moment nicht meine größte Sorge – ich darf jetzt für längere Zeit nicht tanzen, was heißt: Traumrolle ade." „Ja, hab' ich schon gehört – das tut mir so unfassbar leid für dich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, aber bleib stark. Du wirst schneller wieder im Studio sein, als du glaubst." „Das hoffe ich auch. Erzähl mir was vom Tanzen – ich will abgelenkt werden." „Ich weiß nicht, ob..." „Doch, ich vertrage das schon. Wenn ich schon nicht selbst tanzen kann, möchte ich wenigstens was darüber hören" „Na gut, ich habe ja heute das Vortanzen für Odile und hoffe, dass ich die Rolle bekomme. Auch wenn es mein größter Traum gewesen wäre, bei dem Stück mit dir auf der Bühne zu stehen", fügt sie traurig hinzu. „Hey, versprich mir, dass du das für uns beide rockst, ja?" „Ich versprech's." Wir reden noch etwa eine halbe Stunde übers Tanzen, bis sie sagt: „Ich muss jetzt dann leider weg, weil ich langsam beginnen sollte, mich vorzubereiten. Soll ich Ms. Porter, wenn ich sie heute sehe, etwas ausrichten?" „Nein danke, sie hat mich angerufen – ich rufe sie dann gleich zurück. Ich drück' dir die Daumen. Du schaffst das und bitte mach nicht so einen Blödsinn wie ich gestern", sage ich scherzhaft. „Ich werde mich bemühen haha. Ich hab' dich lieb" „Ich dich auch. Viel Glück", sage ich und lege auf. Es hat gut getan, mit Sophie zu telefonieren. Umso mehr Angst habe ich vor meinem nächsten Telefonat mit Ms. Porter.

Ich hoffe, sie ist nicht allzu enttäuscht. Ich wähle also ihre Nummer und warte nervös darauf, dass sie abhebt. „Hallo Jackie, um Himmels willen, was hast du denn da gestern angestellt? Geht's dir gut?" „Es tut mir furchtbar leid, was da passiert ist. Ich habe mir meine Bänder gerissen und werde für längere Zeit nicht tanzen können", rücke ich gleich am Anfang mit der Wahrheit raus. „Ach Schätzchen, Fehler passieren doch jedem Mal. Schade nur, dass es ausgerechnet meine beste Tänzerin getroffen hat." Ich wusste nie, dass sie so von mir denkt – wahrscheinlich ist sie deshalb immer so streng mit mir gewesen. „Ich erzähle dir mal was aus meiner Jugend. Ich hatte schon sehr früh den Traum, Tänzerin zu werden. Ich habe jahrelang trainiert, um in meiner Traumschule aufgenommen zu werden, die zu einer der renommiertesten Schulen zählte. Ich ging also gut vorbereitet zu der Audition und war mir meiner Sache sehr sicher und ich habe dort so gut getanzt wie noch nie zuvor. Plötzlich, ziemlich am Ende des Stücks, knickte ich um und fiel ungünstig zu Boden, worauf ich direkt ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Ärzte haben mir gesagt, ich werde vielleicht nie wieder richtig tanzen können, doch ich wollte meinen Traum nicht aufgeben. Ich habe mich die ersten paar Wochen geschont, dann habe ich wieder gelernt zu gehen und dann habe ich so viel und hart trainiert, dass ich nach etwa zwei bis drei Jahren wieder auf meinem vorherigen Niveau war. Im Jahr darauf habe ich mich nochmal beworben und wurde aufgenommen. Ich bin Profitänzerin geworden, so wie ich es wollte und habe meine Ziele trotz der Verletzung erreicht. Du hast einen Bänderriss, der natürlich auch sehr schmerzhaft und ungünstig ist, jedoch wirst du bereits in ein paar Wochen, spätestens ein paar Monaten wieder dazu in der Lage sein zu tanzen und ich sage dir eines: Mit deinem Potential und Kampfgeist wirst du noch einige Rollen bekommen. Natürlich ist es ärgerlich, aber du wirst ganz bestimmt irgendwann die Möglichkeit haben, Odette zu spielen – vielleicht sogar an einem noch anerkannteren Theater. Also lass den Kopf nicht hängen. Es wird schon alles wieder." „Vielen Dank, Ms. Porter. Sie haben mir so viel Mut gegeben und das nicht nur bei diesem Gespräch, sondern immer schon. Ich verspreche ihnen, dass ich, wenn es mir gesundheitlich wieder möglich ist, unfassbar hart trainieren werde." „Daran zweifle ich nicht Jackie. Du musst dich dennoch schonen und dir die Zeit nehmen, die du brauchst, auch wenn es schwierig erscheint" „Keine Sorge Ms. Porter, da sorgt schon mein Vater dafür" „Das habe ich mir fast gedacht.", gibt sie zurück, da sie meinen Vater, weil ich ja schon seit ich klein bin, in diesem Studio tanze, sehr gut kennt. „Vielen Dank für das Gespräch" „Immer wieder gerne Jackie, wir sehen uns dann im Studio" „Bis dann und nochmal danke", sage ich und lege auf. Wow, diese Frau ist wirklich gut darin, einen zu motivieren und ein riesen Vorbild – ich fühle mich schon viel besser.

So, wie komme ich jetzt am besten nach unten? Ich habe ja bisher noch nicht versucht zu gehen – vielleicht funktioniert es ja. Wenn nicht, setze ich mich einfach schnell wieder hin. Ich richte mich langsam auf und stelle meine beiden Beine auf den Boden – es tut ja gar nicht weh. Ich versuche ganz langsam aufzustehen, aber als ich stehe, durchzuckt mich plötzlich ein spitzer Schmerz und ich schreie, ohne es zu wollen, auf. Es tut so weh, dass ich es nicht mal zurück ins Bett schaffe, sondern auf den Boden sinke. Scheiße, warum tut das so weh? Wie zu erwarten, höre ich bereits schnelle Schritte die Treppe raufkommen. „Was ist passiert?", fragt Michi besorgt und kniet sich zu mir auf den Boden. „Ich wollte versuchen zu gehen, aber es hat plötzlich so weh getan" „Was hast du denn geglaubt, dass du keine Schmerzen haben wirst?" „Im Liegen hat es aber nicht weh getan" „Bis zu einem gewissen Grad helfen ja auch die Schmerzmittel", sagt er leicht wütend, aber ich merke, dass er versucht, die Fassung zu behalten. „An die habe ich gar nicht gedacht. Es tut mir leid.", sage ich und fange an zu weinen – einerseits aus Schmerz andererseits aus Scham. „Hey, das war jetzt nicht die klügste Aktion, aber das weißt du selber. Komm, ich trage dich runter und gebe dir gleich nochmal was gegen die Schmerzen, ja?" „Danke" Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, hebt mich hoch und trägt mich ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin sagt er: „Du kannst froh sein, dass dein Vater schon aus dem Haus ist. Wenn der das mitbekommen hätte, dann hätte er dich wahrscheinlich übers Knie gelegt." „Da bin ich froh, dass mein Vater kein Sadist ist und sowas macht" „Pass auf, sonst erledige ich das noch", sagt er mit mehr Ernst als Spaß in der Stimme. Oh oh, vielleicht sollte ich jetzt besser meinen Mund halten. 

Warum ausgerechnet Arzt? (Teil 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt