8. Kapitel

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Wie in den letzten Jahren traf ich am Nachmittag des 31. Oktobers die Vorbereitungen für das Ritual; sorgte dafür, dass Essen und Holundersirup bei dem flachen Stein, den ich als Schrein auserkoren hatte, bereitstanden, wenn wir das Ritual begannen. Diesmal war es ein besonderes Ritual und die Vorbereitungen dementsprechend ausführlicher: Nebst Essen und Sirup hatte Finëa auch zu einem Krug echten Holunderweins geraten. Die Hauselfen hatten mich misstrauisch beäugt, als ich um den Wein gebeten hatte und ihn mir auch nach all meinen Beteuerungen, dass weder ich noch einer meiner Freunde davon trinken würden, nur zögerlich gegeben. Auch das Salz rückten die Hauselfen nur ungern raus, was diesmal aber eher an der Menge lag: Ein ganzer Sack Salz war etwas anderes, als wenn ich um einen Salzstreuer gebeten hätte. Um die Kräuter zu bekommen, die ich für das Ritual benötigte, musste ich zum Glück nicht bei den Hauselfen nachfragen; die stibitzte Jessie aus dem Vorratsschrank im Zaubertrank-Klassenzimmer, aus dem die Schüler sich bedienen durften – wenn auch eigentlich nur im Rahmen des Unterrichts. Mit meiner Beute, die ich der Tarnung halber in meiner Schultasche verstaut hatte, begab ich mich, begleitet von Finëa, nach draussen. Wir gingen zum Hain bei dem auch der Unterricht in Pflege magischer Geschöpfe stattfand, allerding der von Professor Kesselbrands Hütte entferntesten Stelle. Dort schlüpften wir unter ein paar schweren, tiefhängenden Tannenästen hindurch und gelangten zu dem alten, knorrigen Holunderbaum zu dessen Füssen der flache Stein lag, den ich für das Ritual als Altar gebrauchen würde.

Finëa sah sich versonnen um, als wir unter dem Baum standen. «So sehr hat es sich gar nicht verändert.» Sie lächelte glückselig. «Ich erinnere mich, wie ich diesen Holunder gepflanzt habe, direkt neben diesem Stein hier, es schien mir irgendwie richtig.»

«Und die anderen Bäume? Hast du die auch gepflanzt?», fragte ich und zeigte auf die anderen Bäume des Hains.

Finëa schüttelte den Kopf. «Nein. Das waren Helga, Salazar und Godric. Ich glaube, sie haben mich hier irgendwo begraben, aber ich kann mich an die Dinge kurz nach meinem Tod nicht mehr erinnern.» Sie runzelte nachdenklich die Stirn, während ich gegen eine morbide Belustigung ankämpfte. 'Kurz nach meinem Tod' waren in ihrem Fall wahrscheinlich einige Jahrzehnte.

«Wusstest du, Adrienne, dass Bäume unsterblich sind?», erklärte Finëa.

«Nein, wusste ich nicht. Haben die anderen Gründer die Bäume deshalb gepflanzt?», fragte ich neugierig.

«Wahrscheinlich», meinte Finëa. «Sie sind in gewisser Weise wie wir Fey. Wenn kein Wind sie umwirft, kein Mensch sie fällt, wenn sie von keinen Schädlingen befallen oder von einem Feuer verbrannt werden, dann leben sie ewig.» Finëa lächelte mich an. «Es ist eine geheime Pflicht der Professoren für Kräuterkunde, sich um diesen Holunder hier zu kümmern, damit er keinem dieser Übel zu Opfer fällt.»

«Das heisst, Professor Sprout kennt diesen Ort? Sie kommt hierher?» Hoffentlich würde sie heute Abend nicht herkommen.

Finëa nickte. «Ja, von Zeit zu Zeit kommt sie her und schaut, wie es dem Baum geht. Genau wie ihr Vorgänger und dessen Vorgänger und dessen Vorgängerin und deren Vorgänger .... Helga hat, als letzte, verbliebene Gründerin, auf ihrem Sterbebett die Aufgabe der damaligen Kräuterkunde-Professorin übertragen.» Finëa wirkte nachdenklich. «Das ist schon so lange her. Seither ist so viel passiert. So viel Übel, so viel Schrecken und Schmerz. Aber natürlich auch gute Dinge ...»

Ich liess sie in ihren Erinnerungen treiben, während ich die Gegenstände für das Ritual auf den flachen Stein stellte.

«Und was jetzt?», fragte ich.

«Das Essen, der Sirup und der Wein bleiben auf dem Altar», ordnete Finëa an. «Die Kräuter flechtest du zu einem Zopf – den kannst du auch auf den Altar legen. Vergiss nicht, dass du ihn dann zu Beginn des Rituals anzünden musst, um mit dem Rauch diesen Ort zu reinigen und den Übergang für die Toten in unsere Welt zu erleichtern.»

Undeutbare Zeichen - Adrienne Seanorth 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt