6. Kapitel

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Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag der ganze Raum in Trümmern. Von meinen Mitschülern war niemand zu sehen ausser Kaspar, der schreckensstarr an einer Wand stand. Auf Gesicht und Wangen hatte er einige blutige Kratzer. Jemand näherte sich mir zögernd. Ich erkannte den langen, weissen Bart und die halbmondförmigen Brillengläser. Dumbledore. Hinter ihm kamen, noch zögerlicher, Snape und McGonagall. McGonagall eilte auf Kaspar zu und versuchte ihn wegzubringen, doch Kaspar starrte mich nur geschockt an, er schien die Hauslehrerin von Gryffindor gar nicht wahrzunehmen.

Der Schulleiter kniete sich neben mich und sah besorgt auf mich herab, bevor er seinen Blick durch den Raum schweifen liess. Dann schüttelte er denn Kopf; irgendetwas schien ihn an der Situation zu irritieren, zu verwirren. Sorge, fast schon Angst blitzte in seinen Augen auf, als er seinen Blick erneut mir zuwandte. Er sah mich an, sah mich einfach nur an, eine scheinbare Unendlichkeit lang, dann wandte er sich an Snape, der inzwischen neben ihn getreten war und mich ebenfalls mit gerunzelter Stirn anstarrte.

«Severus, bringen Sie Adrienne hoch in den Krankenflügel. Ich werde unterdessen ihre Mutter verständigen.»

«Nein!» Kaspars Stimme war nicht laut, er schrie nicht, und trotzdem war sie voller Kraft und Entschlossenheit.

«Mr Shade?», fragte Dumbledore, seine Stimme, sonst ruhig und geduldig, zitterte leicht.

«Nicht in den Krankenflügel, in den Gemeinschaftsraum», sagte Kaspar bestimmt.

«Das kann ich nicht verantworten!», platzte es aus Professor McGonagall heraus. «Nicht wenn Miss Seanorth tatsächlich ...»

«Professor McGonagall hat recht, Mr Shade», fiel Dumbledore meiner Hauslehrerin ins Wort. «Das ist wirklich zu gefährlich.»

Verwirrt sah ich zwischen den dreien hin und her. Über was sprachen sie da? Was war zu gefährlich? Und wieso wollte Kaspar nicht, dass man mich in den Krankenflügel brachte? Immerhin lag ich inmitten eines Trümmerfelds, da war das doch durchaus angebracht. Ich horchte in mich hinein und versuchte herauszufinden, ob mir irgendetwas weh tat, aber da war nichts. Ich fühlte mich kerngesund. Nicht mal die Verbrennungen durch den explodierten Zaubertrank brannten noch auf meiner Haut. Seltsam.

In dem ganzen Durcheinander meiner Gedanken und der Auseinandersetzung zwischen Dumbledore, Kaspar und McGonagall hatte ich nicht gemerkt, wie sich Snape mir genähert hatte und mich jetzt vorsichtig hochhob.

«Nicht in den Krankenflügel!», sagte Kaspar erneut bestimmt und fixierte diesmal Snape Mir war nie wirklich aufgefallen, wie dunkel Kaspars Augen waren, fast wie meine. Oder die von Professor Snape. Dann fiel mir doch ein Unterschied auf: Kaspars Augen waren nicht einfach nur dunkel, die Dunkelheit in ihnen schien sich zu bewegen. Lag das daran, dass er einmal ein Obscurial gewesen war?

«Wohin sollen wir Miss Seanorth denn Ihrer Meinung nach bringen, Mr Shade?», fragte Snape kalt und zog eine Augenbraue hoch, was aus meiner Perspektive ziemlich komisch aussah.

«In unseren Gemeinschaftsraum», wiederholte Kaspar fest.

«Nein, Mr Shade, ich habe Ihnen eben gesagt, dass ich dieses Risiko –»

Kaspar unterbrach Professor McGonagall. «Nicht zu den Gryffindors, zu den Finjarelles!»

Urplötzlich kehrte Stille ein im Raum.

Schliesslich nickte Dumbledore. «Gut. Mr Shade, in diesem Fall führen Sie Professor Snape bitte zu Ihrem alten Gemeinschaftsraum. Ich verständige L– Adriennes Mutter.»

So kam es, das Snape mich vorsichtig in seinen Armen hielt, während er Kaspar die Treppen hoch in den zweiten Stock folgte. Kaspar führte uns durch einen Wandteppich auf die Galerie, die die Eingangshalle säumte. Ich bemerkte, wie Snape neugierig über die Brüstung in die Eingangshalle hinab spähte. Kaspar hielt vor einer sehr kleinen, unscheinbaren Holztür mit verrosteten Eisenbeschlägen und Scharnieren, die direkt über dem Portal zur Grossen Halle lag. Er sah kurz zu uns zurück und drückte dann die Tür auf, die ohne das geringste Quietschen zur Seite schwang. Snape fiel es offensichtlich schwer, sich mit mir auf dem Arm durch die Tür zu zwängen, was sein unterdrücktes Fluchen und die Tatsache, dass sich mein Fuss im Türrahmen verhakte, zeigten.

Undeutbare Zeichen - Adrienne Seanorth 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt