Kapitel 2

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„Bereit?"
Leons Blick schweifte über meine Kleidung - blaue Jeanshotpants, eine sommerliche, braune Bluse mit weißen Punkten und Espadrilles.
„Sicher, dass das dein bestes Outfit zum Pilze sammeln ist?" Leon lachte.
„Wir gehen doch nicht tief in den Wald hinein? Da muss ich keine Wanderschuhe anziehen. Abgesehen davon besitze ich auch gar keine", verteidigte ich mich.
Nach Leons Erzählungen war er schon immer ein Landkind gewesen. Ich hingegen kam aus der Stadt. Wann war ich überhaupt das letzte Mal in einem Wald spazieren? In einem Park, ja, aber im Wald?
„So lange du weißt, nach welchen Pilzen du Ausschau halten musst, ist es verziehen", witzelte mein Freund und öffnete das Gartentor. Ich folgte ihm und er sperrte hinter uns ab.
„Sind hier noch viele weitere Ferienhäuser?", fragte ich, während Leon nochmal das Schloss prüfte.
„Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Normalerweise ist man hier immer ungestört."
Wir marschierten in den Wald, der uns bald mit seinen gewaltigen Bäumen umringte. Biologie war nie meine Stärke gewesen, aber die Eichen konnte ich ausmachen. Der Wind rauschte in den Blättern – eine Abkühlung von der frühsommerlichen Hitze. Ein einzelner Vogel sang, es war ein schallender, trommelnder Klang. Ich hielt Ausschau nach essbar wirkenden Pilzen und sah eine Ameisenstraße, die sich fleißig ihren Weg über die Holzstämme am Wegrand bahnte.
„Also, welche Pilze kann man im Juni nochmal finden? Auf jeden Fall Steinpilze und etwas mit grasgrün, oder?", fragte ich, den Blick auf Leon gerichtet.
„Ja genau, du meinst die grasgrünen Täublinge."
„Alles klar. Mal schauen, ob das was wird", sagte ich und lachte.
Mein Interesse für die gemeinsame Aktivität war auf jeden Fall geweckt. Vor allem, nachdem Leon mir tausende Pilzsorten aus einem Buch vorgestellt und mit solch einer Begeisterung von seinen Expeditionen mit seinem Vater berichtet hatte. Ich freute mich, dass er mir ein Stück seiner Kindheit zeigte und dadurch auch mehr von ihm. Generell erzählte er nicht viel von seiner Vergangenheit, nur wenn ich nachfragte und auch dann antwortete er meistens nur knapp.
Leon riss mich aus meinen Gedanken: „Bevor ich es vergesse, bei dem grasgrünen Täubling sollten wir besonders vorsichtig sein. Der wird oft mit dem grünen Knollenblätterpilz verwechselt. Der Unterschied ist, dass der Täubling essbar, der Knollenblätterpilz tödlich ist! Am einfachsten ist es, die beiden am Geruch zu unterscheiden. Der grüne Täubling hat einen neutralen Geruch, während der grüne Knollenblätterpilz am Anfang süßlich riecht und im Laufe der Zeit fast ammoniakartig."
„Aber sehen die denn so ähnlich aus?"
„Na ja, beide haben einen grünen Hut. Der Täubling ist etwas kleiner und da sieht der Hut feucht-schmierig aus. Aber wir nehmen sie ja erstmal mit nach Hause. Falls wir welche finden sollten, können wir meinen Vater anrufen und nachfragen."
Leon blieb abrupt stehen.
„Hier! Ich glaube, das sind Sommersteinpilze."
Er deutete auf zwei bräunliche Pilze mit einem mächtigen Schirm direkt bei einer Buche. Er lief an umgefallenen Baumstämmen vorbei und ging neben den Steinpilzen in die Knie, um sie mit dem Taschenmesser abzuschneiden.
„Fängt ja super an, unsere Pilzsuche!"
Ich musste grinsen. Leon schien voll in seinem Element. Ich lief etwas tiefer in den Wald hinein und hielt auf dem Boden Ausschau. Im Schatten eines ausladenden Busches entdeckte ich eine Menge kleiner, bräunlicher Pilze.
„Ich glaube, da sind auch welche!"
Leon lief auf mich zu und begutachtete meinen Fund.
„Hmm ... die sehen aus wie Stockschwämmchen. Aber es könnten genauso Gifthäublinge sein. Vater hat mir damals immer von diesen Pilzen erzählt und dass man da besonders vorsichtig sein muss. Wir sollten sie besser nicht mitnehmen."
Ich versteckte die Enttäuschung und nickte zustimmend. Jetzt hatte ich welche entdeckt und wir konnten sie nicht aufsammeln! Aber meine Chance würde schon noch kommen. Mit neu gefasster Motivation marschierte ich weiter.
„Hey, Anna, nicht so schnell! Hier wollte ich auch nachsehen. Ich glaube, damals gab es an dieser Stelle oft welche."
„Ja, ich komme gleich!", rief ich über meine Schulter.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas in den Bäumen. Irgendetwas Graues. Ich näherte mich ihnen und sah, dass darin ein Tier lag. Ein Vogel? Die Blätter knirschten, als ich mich auf den Waldboden kniete. Im Schatten der Bäume war der erdige Boden kalt. Das wilde Tier hob seinen Kopf. Es war ein junger Schwan! Ein Schwan im Wald? Wie kam er hierhin? Doch, da! Er blutete! Der Flügel schien verletzt zu sein. Als ich langsam näher kroch, erhob er sich und starrte in meine Augen.
„Hey, alles ist in Ordnung. Ich will dir nur helfen!"
Ich streckte eine Hand nach vorne.
„Anna", hörte ich eine entfernte Stimme.
„Ja, ich komme gleich!", rief ich über meine Schulter. Ich wandte mich dem Tier zu: „Willst du mit nach Hause kommen? Wir pflegen dich und du bist bald wieder gesund!"
Der Schwan starrte mich weiterhin an, zeigte aber keine Reaktion. Langsam krabbelte ich weiter vor, die Hand immer noch ausgestreckt. Nur ein paar Zentimeter lagen zwischen den Fingern und dem Tier. Ein lautes Krachen ertönte.
Der Schwan sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam, streckte seine Flügel aus und flog weg. Dabei hing sein verletzter Flügel etwas tiefer. Ich sah zu den Bäumen, von denen der Laut kam.
„Ist da jemand?" Meine Stimme zitterte.
Statt auf eine Antwort zu warten, erhob ich mich vom Waldboden - die Beine mit Erde und Blättern bedeckt - und lief in die entgegengesetzte Richtung. Dabei sah ich immer wieder zurück.
Niemand zu sehen.
Allerdings war auch von Leon keine Spur mehr.
„Leon?"
Ich sah mich im Wald um. Drehte mich im Kreis. Zum Glück war es noch hell, auch wenn die Sonne langsam unterging. Weit konnte er nicht sein. Ich lief in die Richtung, in der ich den Hauptweg vermutete. Doch da sah ich sie.
Pilze!
Direkt vier nebeneinander. Sie sahen aus wie große Champignons. Als ich mich ihnen näherte, strahlte mir unverkennbar die grüne Farbe entgegen. Doch keine Champignons. Das müssen Täublinge sein! Stolz, dass ich sie allein entdeckt hatte, schnitt ich einen am Stiel ab. Roch daran. Beim süßlichen Geruch stellten sich meine Nackenhaare auf.
Wieder ein lautes Knacksen. Ich ließ den Pilz fallen und stolperte zurück. Verfolgte mich jemand? Plötzlich taumelte ich in etwas hinter mir.
In einen Körper.
Ich schrie auf und versuchte, wegzurennen. Doch zwei Hände packten mich. Eine legte sich über meinen Mund.
„Pssst! Warum schreist du denn?", hörte ich eine bekannte Stimme.
Ich drehte mich um und befreite mich von den Händen.
„Leon!", sagte ich erleichtert, „ich dachte, du wärst jemand anders!"
„Hier sind nicht so viele Menschen unterwegs. Glaub mir!", lachte er. „Was hast du da eben fallen lassen?"
Ich atmete hörbar aus. Der Schrecken steckte mir immer noch in den Knochen.
„Einen Pliz. Ich habe grüne Täublinge gefunden."
Leon runzelte die Stirn und ging auf meine Entdeckung zu. Er hob ihn auf, zog an der Huthaut, drehte ihn konzentriert in seiner Hand. Schließlich roch er daran.
„Das sind keine Täublinge! Das sind grüne Knollenblätterpilze. Und das im Juni."
„Oh, das ist der giftige Pilz?"
„Ja, er ist absolut tödlich. Schon wenige Gramm genügen. Man bemerkt die Gefahr weder am Aussehen noch am Geschmack! Manchmal leben die Menschen, die den Pilz gegessen haben, sogar bis zu zehn Tage nach dem Verzehr. Allerdings hilft so spät nur noch eine Lebertransplantation."
Mir wurde schwummrig. Ich hatte den Pilz in der Hand gehalten. Hatte daran gerochen.
„Ich denke, wir sollten langsam zurücklaufen. Es dämmert schon!", sagte ich.
„Lass uns noch ein wenig spazieren. Ich kenne einen schönen Weg. Der dauert zwar etwas länger, aber es lohnt sich."
Wir liefen los, Leons Arm um meine Hüfte geschwungen. Die Sonne war mittlerweile nicht mehr zu sehen, nur ein paar letzte orangefarbene Strahlen erleuchteten den Wald. Die Taschenlampe brauchten wir dennoch nicht. Hoffentlich waren wir schnell genug zurück am Haus, sodass wir sie heute gar nicht mehr brauchen würden. Obwohl mir etwas mulmig bei dem Gedanken zumute war, zu dieser Zeit im Wald zu sein, wollte ich keine Spielverderberin sein. Nicht drängen, jetzt schon zum Haus zurückzugehen – Pilze hatten wir immerhin nur wenige gefunden. Abgesehen von den Sommersteinpilzen, die wir gemeinsam entdeckt hatten, hatte Leon nur eine Handvoll weitere in den Korb getan. Er grinste dennoch und pfiff vor sich hin. In der anfänglichen Dunkelheit schien der Wald noch stiller als im Sonnenlicht. Außer unserer Schritte war bloß Blätterrauschen zu hören. Der Wind war angenehm in der immer noch währenden abendlichen Hitze. Obwohl erst Juni war, war es tagsüber schon so heiß wie an Augusttagen.
Als es dunkler wurde, schaltete Leon die Taschenlampe ein und wir folgten dem Lichtstrahl. Mein Herz fing an zu pochen. So laut, dass ich glaubte, es zu hören. So laut, dass ich glaubte, selbst der Mann an meiner Seite würde es hören. Von der Ferne ein Tiergeräusch.
Ein Wildschwein? Der Wolf?
Herausfinden wollte ich das nicht. Wir sollten zurück zum Haus. Zurück in Sicherheit.
„Hast du das auch gehört?", fragte ich.
„Ja, das war irgendein Tier. Aber es scheint nicht in der Nähe zu sein, keine Sorge."
„Ich denke, wir sollten uns beeilen, nach Hause zu gehen", sagte ich mit zitternder Stimme.
„Ach was, das Geräusch war doch weit entfernt. Ich kenne mich hier aus, uns passiert schon nichts."
Das Bild des Wolfes schoss mir durch den Kopf. Meine Finger wurden kalt. Viel lieber würde ich auf der Couch liegen und ein gutes Buch lesen. Dennoch wollte ich keine Szene machen, keine Spaßbremse sein. Leon ergriff meine Hand, drückte sie fest.
„Ich bin hier bei dir", sagte er und küsste mich auf die Stirn.
„Mein Vater ist früher oft mit mir durch den Wald gelaufen, auch manchmal, wenn es schon dämmerte. Ich bin gerne hier. Aber wenn du Angst hast, beeilen wir uns, zurückzukommen." Erleichtert nickte ich und wir begaben uns auf den Weg zum Haus.
„Ich muss mal kurz für kleine Jungs, halte einfach die Taschenlampe, bin gleich wieder da."
„Wo gehst du hin?"
„Nur hier, direkt um die Ecke."
 „Okay. Beeil' dich bitte!" Mein Lichtstrahl folgte Leon.
„Kannst du woanders hin leuchten?", fragte er lachend.
Beschämt leuchtete ich weg. Mir war mulmig zumute, wenn ich ihn nicht sehen konnte. Trotzdem wartete ich.

Irgendwann richtete ich den Lichtkegel abermals dahin, wo Leon gestanden hatte. Er war weg. 

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