Seit unserem offenen Gespräch hatte sich die Stimmung gebessert, selbst wenn ich nicht mochte, was ich gehört hatte. Aber was war in der Wohnung zwischen Leon und Sascha passiert? Was war der Grund, dass die Beziehung zu Ende ging? Seine Ex ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Liebte sie ihn noch? Gab sie so leicht auf?
Immerhin waren sie sieben Jahre zusammen gewesen, er wollte sich mit ihr ein Leben aufbauen und hatte ihr einiges durchgehen lassen. Und trotz ihres Verhaltens hatte er nie die Fassung verloren, nicht so wie bei mir. Womöglich hatte er aber die Teile der Erzählung einfach weggelassen.
Heute Abend planten wir, Scrabble zu spielen. Es kam mir gelegen, dass wir keinen Fernseher hatten und den Strom nicht für Laptops verschwenden konnten. Ich war nie diejenige gewesen, die gerne Serien schaute. Ins Kino ging ich schon eher, aber nur selten, wenn ein richtig guter Film lief. Am liebsten las ich abends oder unternahm was mit Sophie. Und nun auch mit Leon.„Hey, weißt du eigentlich, dass wir schon fast eine Woche hier sind?", verkündete mein Freund als er das Spiel aus dem Flurschrank fischte.
Ich nickte, immer noch in Gedanken verloren. Leon verteilte die ersten Buchstaben und stellte das Brett auf.
„Moment!", gab ich erschrocken zurück, „Was für ein Tag ist heute?"„Dienstag, warum?"
„Nein, ich meine das Datum."
„Der 16.06."
Ich sprang auf und auch sein Gesicht zeigte nun, dass er sich erinnerte.
Sophies Geburtstag!
Verdammt. Wie hatte ich ihn nur vergessen können. Normalerweise rief ich sie immer um 00:00 Uhr an, um die Erste sein zu können, die ihr gratulierte. Der 16.06. war auch kein Datum, das man schnell vergaß.
„Sophie! Ich rufe sie kurz an!", sagte ich zu Leon und war schon im Schlafzimmer verschwunden. Das Handy lag für gewöhnlich auf meinem Nachttisch, außer ich benutzte es, um beim Yoga Musik zu hören.
Allerdings lag es nicht da. Hatte ich es anderweitig genutzt und es doch woanders hingelegt? Ich schob mein Nachtschränkchen zur Seite, um nachzusehen, ob es heruntergefallen war. Dahinter war jede Menge Staub, ein Haargummi und ein Haarspängchen; aber kein Handy. Die Staubwolken kratzten in meinem Hals und kitzelten in meiner Nase. Ich musste niesen.
Den Nachttisch schob ich zurück an die Wand und legte mich auf den Boden, um unter dem Holzbett nachsehen zu können. Hier war genau so viel Staub, aber kein Handy. Wann hatte ich das letzte Mal das Smartphone in der Hand gehabt? Ich war gestern Abend durch Instagram gescrollt. Irgendwann hatte ich es neben mich auf meinen Nachttisch gelegt und bin eingeschlafen. Wie war der Morgen verlaufen? Hatte ich es benutzt? Nach dem Frühstück waren wir direkt in den Garten gegangen. Hatte ich hier mein Handy dabei gehabt? Ich konnte mich nicht erinnern.
„Leon? Hast du mein Smartphone gesehen?", rief ich ins Wohnzimmer.
Keine Antwort.
Wenigstens hatte ich daran gedacht, dass ich Sophie gratulieren musste, sie war immerhin der wichtigste Mensch in meinem Leben!
Seit wir uns kennengelernt hatten, hingen wir die ganze Zeit zusammen. Wir erzählten uns jede Kleinigkeit über unsere Leben. In dem Urlaub hatten wir das erste Mal über einen längeren Zeitraum nicht miteinander gesprochen oder geschrieben – außer dem einen Telefonat, von dem Leon zum Glück nichts wusste. Er meinte, der Sinn hinter solch einer Auszeit wäre es, abzuschalten und dazu gehörten ebenso soziale Kontakte.
Am Anfang dachte ich, ich würde es sowieso nicht aushalten, mich so gar nicht mit Sophie auszutauschen. Aber nun hatte ich sogar fast ihren Geburtstag vergessen. Das lag alles an den Problemen mit Leon. Meine Gedanken kreisten nur noch um ihn, unsere Beziehung und Sascha.
Sophie und ich waren damals, zu Beginn des Bachelorstudiums, in der gleichen Freundesgruppe gelandet. Sie hatte direkt am Anfang gefragt, ob wir uns denn nicht bei ihr zu zweit für die Party am Abend fertig machen wollen würden. Danach würden wir uns mit der Gruppe treffen. Ich hatte zugesagt und mich riesig über die Einladung gefreut.Als ich bei Sophie ankam, öffnete sie mir die Tür in einem dunkelroten, kurzen Kleid - der Reißverschluss war noch offen. Sie war barfuß und hatte ihr hellbraunes Haar zur Hälfte gelockt. Sie strahlte, als sie mich sah und drückte mich an sich. Ihr WG-Zimmer war nicht allzu groß, aber hatte einen eigenen Balkon. Es war in hellen Holzmöbeln eingerichtet und mit Lichterketten und Fotos dekoriert. Auf ihrem Bett lag ein riesiger Haufen Kleider und Röcke und auf dem Boden waren verschiedene High Heels verstreut. Auf ihrem Schreibtisch standen eine Flasche Sekt und zwei Gläser. Eins war halb gefüllt, das andere leer. Sophie sah mich von oben bis unten an – ich trug eine blaue Jeans, ein rosa Blusentop und Ballerinas.
„Sag nicht, dass du so losgehen möchtest?", sagte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Ich sah sie perplex an.
„Ähm, wieso?"
„Nicht, dass du nicht gut aussiehst, du siehst wahrscheinlich in allem gut aus, aber heute Nacht gehen wir feiern!"
Sie grinste mich mit glänzenden Augen an.
„Wir müssen dich aufstylen!", fügte sie hastig hinzu.
Da ging sie schon auf ihren Klamottenberg auf dem Bett los. Sie schien nichts zu finden, was sie zufrieden stellte, denn sie fing an, ihren Schrank zu durchforsten.
„Okay, ich habe das perfekte Kleid für dich!", ertönte ihre triumphierende Stimme aus dem Kleiderschrank.
Sophie nahm ein weißes Kleid mit einem satinartigen Stoff hervor und hielt es vor mich – so als würde sie sich vorstellen, wie ich wohl darin aussähe.
„Und darüber ziehst du noch einen Gürtel, damit das Kleid deine Figur betont und nicht bloß locker am Körper herunterhängt. Dann noch Heels und voilà, du bist fertig. Willst du es mal anprobieren?"
Dankend nahm ich das Kleid entgegen und sah mich um. Sollte ich mich direkt hier im Zimmer umziehen? Klar, sie war auch ein Mädchen, aber wir kannten uns gar nicht. Sie bemerkte wohl meinen suchenden Blick und lachte.
„Ich schau dir schon nichts ab, keine Sorge."Kaum hatte ich das Kleid an, kam Sophie, legte mir einen goldfarbenen Gürtel um und reichte mir Pumps.
„Kannst du darin laufen?"
Ich nickte, obwohl ich an einer Hand abzählen konnte, wie oft ich Schuhe mit Absätzen getragen hatte. Sophie bemerkte meine Bedenken nicht, sie war schon beim Sekt, schenkte ein. Sie reichte mir ein Glas und nahm sich das andere, das vorher schon halbvoll war. Anschließend ging sie auf den Balkon, zündete sich eine Zigarette an und streckte mir fragend die Schachtel entgegen. Ich setzte mich neben sie, lehnte den Glimmstängel aber ab.
Während des Abends lockte sie sich den Rest ihrer Haare und glättete daraufhin meine. Danach machte sie mein Make-up, und wir tranken die Flasche Sekt leer. Irgendwann war es zweiundzwanzig Uhr und wir stöckelten in unseren Pumps los, um uns mit der Gruppe zu treffen.
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Entzweit
Mystery / ThrillerAnna kann ihr Glück kaum fassen: Ihr Traumleben mit Bilderbuchfamilie ist zum Greifen nah. Leon ist der Richtige für sie, daran besteht kein Zweifel. Doch der romantische Urlaub in der Waldhütte seiner Eltern entwickelt sich mehr und mehr zu einem A...