Kapitel 30

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Mittlerweile war es schon lange her, dass Mama in den Himmel gekommen war. Ich hatte seitdem schon oft geschlafen. Bis hundert hatte ich gezählt, weiter konnte ich leider nicht zählen. Das hieß, ich hatte seitdem schon mehr als hundert Mal geschlafen. Die Tage ohne sie waren einsam. Sonst hörte man ihr Lachen im ganzen Haus oder sie spielte etwas mit mir. Alles erinnerte mich an sie. Die ersten Tage, die ersten vierzig Tage, um genau zu sein, hatte ich jeden Tag geweint. Doch auf einmal nicht mehr. Als hätte ich keine Tränen mehr. Doch ich vermisste sie jeden Tag. Bei der Beerdigung habe ich nicht geweint, ich weiß nicht warum. Alle sagten mir, wie stark ich doch sei. Es waren viele Menschen da gewesen, ich hatte nicht alle gekannt. Mama hatte sehr viele Freunde gehabt. Papa hatte auf der Beerdigung geweint. So hatte ich ihn noch nie weinen sehen. Er hatte vorne über Mama geredet, doch er konnte nicht zu Ende reden, denn er musste so sehr weinen, dass er kein weiteres Wort mehr sagen konnte.
Papa war komisch geworden, seit Mama tot ist, er weckte mich nicht mehr zur Schule, ich musste mir selbst meinen Wecker stellen. Gut, dass Mama mir den Diddl-Wecker gekauft hatte, den ich mir gewünscht hatte. Wie hätte ich sonst wissen können, wann ich aufstehen musste? Immerhin hatte er mir geholfen, den Wecker einzustellen. Im Uhrenlesen bin ich auch schon viel besser geworden. Wenn mein Wecker klingelte, stand ich auf, ging in die Küche und holte mir zwei Toasts, die ich in den Toaster tun musste. Danach musste ich den Schalter nach unten schieben und warten, bis es ‚Ping' machte und die Brote wieder rauskamen – dann aber knusprig. Danach holte ich Nutella aus dem Schrank und ein Messer und schmierte mir Toastbrote. Eins aß ich direkt und das andere klappte ich zusammen, um es mit in die Schule zu nehmen. Zum Schluss nahm ich mir noch eine kleine Flasche Apfelschorle und legte beides in meinen Rucksack. Das konnte ich alles schon echt gut. Anfangs hatte ich mir nichts zu essen gemacht für die Schule und war den ganzen Morgen so hungrig gewesen, dass sogar mein Magen geknurrt hatte. Wenn ich morgens zur Schule ging, schlief Papa immer noch. Früher waren Mama und Papa beide morgens wach gewesen und Papa war sogar vor mir zur Arbeit gegangen. Mama hatte mich zur Schule gebracht und war danach auch zur Arbeit gegangen, bis sie mich von der Schule abgeholt hatte. Danach hatte sie gekocht, während ich meine Hausaufgaben am Küchentisch erledigt hatte, um bei ihr zu sein. Oft hatte sie mich zum Probieren gebraucht. Sie hatte gesagt, dass niemand so gut probieren könne wie ich. Manchmal hatte ich ihr erzählt, was ich für Aufgaben hatte, und selten musste sie mir helfen. Meistens hatte ich meine Hausaufgaben allein machen können. Ich hatte immer sehr gute Noten und mein Klassenlehrer lobte immer, wie gut ich die Aufgaben erledigte.
Meine Mama holte mich aber nicht mehr von der Schule ab. Mein Papa auch nicht. Wenn ich nur drei oder vier Stunden hatte, schlief mein Papa noch, wenn ich zurückkam. Wenn ich fünf Stunden hatte, war er meistens wach. Am Anfang hatte ich ihn gefragt, ob er uns Mittagessen kochen wollte, während ich meine Hausaufgaben machte, aber ich gab es schnell auf. Wenn ich Glück hatte, sagte er nur ‚Nein'. Wenn ich Pech hatte, schrie er mich an und sagte mir, dass meine Mama jetzt noch für mich kochen könnte, hätte ich nicht auf meine Geburtstagskerzen bestanden. Also holte ich die Cornflakes aus dem Schrank und schüttete sie in eine Schüssel. Manchmal gab es keine sauberen Schüsseln mehr, dann musste ich eine abspülen. Das konnte ich schon allein. Meistens konnte ich mir noch Milch dazu schütten. Manchmal hatten wir aber keine mehr und ich sagte Papa Bescheid, dass sie leer war, damit er neue kaufen ging. Ich hatte mir auch schonmal Geld aus meiner Spardose genommen und war damit allein zum Netto gelaufen. Dort hatte man aber gefragt, wo meine Eltern seien. Man hatte mir trotzdem die Milch gegeben; aber besser ging ich nur noch mit Papa dahin. Die Verkäuferin war nämlich komisch zu mir gewesen, als ich allein war. Wenn wir keine Milch hatten, aß ich die Cornflakes eben pur. Das war okay, auch wenn nichts so gut wie Mamas Essen schmeckte. Manchmal bestellte Papa abends Pizza und ich konnte die Reste am nächsten Tag essen. Wenn Besuch kam, räumte Papa vorher auf und es gab etwas Richtiges zu essen. Am liebsten mochte ich seine Spaghetti Bolognese, das gab es auch meistens. Wir hatten aber nicht oft Besuch.
Nach dem Mittagessen ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür. Am Anfang des Tages war mein Papa am besten drauf, aber je später es wurde, desto schlimmer wurde sein Verhalten. Wenn er mich sah und es war schon abends, sagte er immer wieder, ich sei schuld. Ich und mein Egoismus. Am Anfang wusste ich gar nicht, was das hieß – Egoismus. Mein Lehrer meinte, es bedeutet, wenn man sich selbst am wichtigsten sei. Hatte ich ihn? Den Egoismus? Mama war mir doch am wichtigsten, nicht ich selbst. Aber sie war im Himmel und schaute auf mich herunter. Bestimmt war sie stolz, wenn sie sah, was ich schon alles konnte. Manchmal roch ich sie in der Wohnung, aber wenn ich sie suchte, konnte ich sie nie finden. Ich roch sie bestimmt immer, wenn sie mir besonders genau zusah. Ab und zu spielte sie wahrscheinlich mit Cookie. Das war okay, sie musste mir ja nicht immer zusehen. Papa sah sie sicher nicht mehr zu. Er machte nicht viel, außer Herumsitzen und sein Erwachsenengetränk zu trinken. Das war übrigens Whiskey. Ich konnte schon ganz gut lesen und hatte irgendwann nachgelesen, was auf seinen Flaschen stand. Das war ein komischer Name. Er sah auch gerne fern. Das war für Mama immer langweilig, wenn sie ihm vom Himmel aus zusah. Bestimmt würde sie auch mit uns beiden schimpfen, weil wir nicht mehr Ordnung hielten, seit sie weg war. Oft war es sogar ganz schön eklig bei uns zuhause. Aber mein Zimmer war dafür immer ordentlich. Bloß das mit dem Staubsaugen bekam ich nicht gut hin. Der Staubsauger war nämlich sehr sehr schwer. Und man bekam da immer das Kabel so schlecht raus. Das sah nicht so leicht aus wie bei Mama damals.
Der Tag war so wie viele andere. Aber auf einmal klopfte es an meiner Zimmertür – Papa kam sonst nie in mein Zimmer. Und seit wann klopfte er?
„Ja?", rief ich von meinem Bett, auf dem ich in einem Schneidersitz saß und mein Buch las - „Fünf Freunde". Papa kam herein und setzte sich ebenso auf das Bett.
„Du gehst zu Oma und Opa", sagte er.
Einfach so. Ohne Vorwarnung. Ich war verwirrt.
„Zu Besuch?", fragte ich.
„Nein, du wirst mit ihnen leben."
„Bei Oma und Opa?"
Oma und Opa waren nett. Sie waren fast die Einzigen, die ab und zu zu Besuch kamen, seit Mama tot war. Ich nickte. Auch wenn ich Papa ein wenig vermissen würde, hatte ich mit Oma und Opa immer sehr viel Spaß. Sie spielten mit mir oder lasen mir vor, wenn sie hier waren. Nicht so wie Papa. Er spielte nie mit mir. Er redete überhaupt nur selten mit mir.
„Sie werden sich sicher gut um dich kümmern. Besser als ich es kann."
Es war lange her, dass Papa so klar redete. Oft redete er ganz komisch, sodass man ihn gar nicht verstehen konnte.
„Oma und Opa sind noch auf einer Weltreise. Ich habe zwar schon mit ihnen geredet und sie werden so bald wie möglich zurückkommen, sie können jedoch auch nicht einfach ihre Reise abbrechen. Bis sie zurück sind, wird sich aber mein Bruder um dich kümmern. Er selbst hat keine Kinder und hat angeboten, auf dich aufzupassen. Er arbeitet von zuhause aus und damit kann er sehr gut auf dich aufpassen."
Ich schluckte. Sein Bruder? Mein Onkel? Ich hatte ihn noch nie gesehen. War er überhaupt bei der Beerdigung gewesen?

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